Die Ausweichschule
304 Seiten

Die Frage, die in meinem Stück eine grosse Rolle spielen wird, sagt er nach einer kurzen Pause, ist das Warum. Nicht als abgeschlossene Wahrheit natürlich, als letztes Wort. Mir ist klar, man kann sich an diese Frage immer nur annähern und keine endgültige Antwort finden. Trotzdem würden mich deine Gedanken dazu interessieren. Wenn es dir nichts ausmacht. Es macht mir nichts aus, antworte ich. Aber ich weiss nicht so genau, was ich dir anbieten kann. Du musst mir nichts anbieten, sagt der Dramatiker. Aber es ist mein Gefühl, fährt er fort, dass Verarbeitung auch bedeutet, zumindest für sich selbst eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu finden. Vielleicht auch nur eine vorläufige. (S.91-92)

Ich bin mir nicht sicher, ob man unbedingt zwanzig Jahre später ein Buch über den Erfurter Amoklauf schreiben muss, Wunden aufreissen, einen Topf umrühren, den man vielleicht ganz in Ruhe lassen sollte. Welchen plausiblen Grund es dafür geben könnte. Was ich weiss, ist, dass meine Gliedmassen heute, in den Zwanzigerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, taub werden, wenn ich Erfurt zu nahe komme, und meine Luftröhre sich verschliesst. [...] Nach einem halben Jahr des Schreibens weiss ich immer noch wenig über meine eigene Motivation, aber ich weiss, dass ich nichts aus dem Amoklauf "lernen" will, weil er kein Schulbuch, kein Schaubild, kein Merksatz ist, dass ich nichts aus ihm "schöpfen" will, denn er ist kein Waschbecken und kein Brunnen, sondern ein reales Ereignis, in dessen Folge heute siebzehn Menschen nicht mehr leben. (S.120)

Traumatherapie, das bedeutet nicht, zu trauern. Nicht mal, mit Trauer umzugehen. Es bedeutet, sich etwas Grundlegendes zurückzuholen, einen Boden unter den Füssen, auf dem man dem traumatisierenden Ereignis entgegentreten kann. Einen Zugang zu seinem eigenen Inneren zurückzugewinnen, der Dissoziation, der Abspaltung des Ereignisses entgegenzuwirken. Das Trauma ist eine Schutzreaktion des Körpers, es entfernt einen von der Welt, schneidet ein Stück ab, das gewaltsam versucht, sich den Weg zurück zu erkämpfen. (S.152)

Mich interessiert, was man darf, beende ich den Satz. [...] Sich eine Geschichte nehmen, sich einer Geschichte anzunehmen, einer brutalen, gewaltvollen Geschichte, das kommt mir [...] anmassend vor [...]. Du hast den Amoklauf erlebt, sagt der Dramatiker. Du bist Betroffener dieser Gewalt. Ja, sage ich. Aber bin ich betroffen genug? Ich habe im Gegensatz zu meinen Mitschülern keinen Mord und kein Blut gesehen, ich war nur anderthalb Jahre auf der Ausweichschule und bin dann weggezogen, ich bin vielleicht nicht der Richtige, um diese Geschichten zu erzählen. Ich schreibe ja nicht nur über mich selbst. Ich rühre einen Topf um, von dem ich nicht weiss, ob ich mich ihm überhaupt nähern sollte, einen völlig fremden Topf, so fühlt es sich an, als würde ich irgendwo durch ein Fenster einsteigen, um einen Topf umzurühren. (S.168-169)

Kaleb Erdmann erlebt 2002 als elfjähriger Schüler den Amoklauf in seiner Schule, dem Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. 17 Menschen sterben. Sein Buch handelt davon, auch der Protagonist scheint er zu sein. Zwanzig Jahre später überrollt ihn das traumatische Erlebnis erneut, als ein Dramatiker, der ein Bühnenstück über Amoklauf schreiben möchte, mit ihm in Kontakt tritt. Er beginnt selbst, ein Buch über seine Erinnerungen zu schreiben, kommt aber immer wieder ins Zweifeln und fragt sich, ob er überhaupt berechtigt ist, nach so vielen Jahren darüber zu schreiben, alte Wunden aufzureissen. Ob er die richtige Person ist, darüber zu schreiben. Ob seine Erinnerungen akkurat genug sind. Und er stellt sich Fragen: Welche Sprache wird dem Ereignis gerecht, ist genug respektvoll?

Das Buch ging mir sehr nahe und liess mich, auch längst nachdem ich es ausgelesen hatte, nicht los. Der innere Kampf des Protagonisten ist sehr gut spürbar, sein Hadern, sein Ringen. Es fällt ihm schwer, sich mit diesen Erinnerungen auseinanderzusetzen. Eine Schwere begleitet ihn durch das ganze Buch hinweg. Seine reflektierte Art, sein ständiges Hinterfragen seines Tuns berührten mich sehr. Das Buch regt zum Nachdenken an, berührt, erschüttert und nahm mich sehr mit. Die Sprache sehr schön gewählt, sehr "nahe" und persönlich.

& Das Pen!smuseum - Mit Texten von Jovana Reisinger, Sophia Süßmilch und Illustrationen von Andrea Z. Scharf
216 Seiten

Während der "Mann oder Bär"-Debatte warst du tagelang wie an den Bildschirm geklebt. "Ein Bär würde mich einfach nur töten", haben die Frauen im Internet geschrieben, "er würde mich nicht in einen Keller sperren und jahrelang missbrauchen." [...] "Ein Bär würde mich einfach nur töten", haben sie geschrieben, "er würde mich nicht mit Rohypnol betäuben, vergewaltigen und dabei filmen, um später mit seinen Freunden über die Videos zu lachen." [...] "Wenn ich im Wald verschwinde, denkt niemand, dass es ein Bär war", haben die Frauen im Internet geschrieben. "Wenn ich von einem Bären verletzt werde, wird mir wenigstens geglaubt." Und: "Nach einem Bärenangriff fragt mich niemand, was ich anhatte." Bei Bären, die zu achtzig Prozent Vegetarier sind, besteht eine reelle Chance, dass sie ruhig ihrer Wege gehen. Bärinnen greifen nur an, um sich selbst und ihresgleichen zu beschützen. (S. 97-99)

In den Anhörungen haben die meisten der fünfzig Täter den Vorwurf der Vergewaltigung von sich gewiesen. Sie seien überzeugt gewesen, das Ganze gschehe mit Gisèle Pélicots Wissen, haben sie behauptet. Ein Sexspiel. Ein Fetisch des Ehepaars. Dabei erkennt man auf den Videos, wie tief Gisèle Pélicot schläft und dass das kein normaler Schlaf ist. Man hört sie sogar schnarchen. Wenn also Männer Videobeweise sehen, wie sie höchstpersönlich eine bewusstlose Frau vergewaltigen und sagen: Das ist keine Vergewaltigung, wie kriegt man dann Verständnis dafür, was einvernehmlicher Sex ist und was nicht, in ihre Schädel? (S.129)

Das mit dem Salz hat die Gabi über die Jahre perfektioniert. Sie gibt ein Priserl, auf keinen Fall zu viel, aber auch nicht zu wenig, in den Kaffee, grad so, dass er dem Typen nicht mehr schmeckt, er aber nicht nachvollziehen kann, warum. [...] Er soll das Unangenehme aushalten, sie tut es ja auch. Wenn eine Frau Männer datet, muss sie viel Unangenehmes aushalten. Der eigentliche Witz ist nämlich, dass die Männer den Kaffee trotzdem runterwürgen. So dringend wollen sie die Illusion aufrechterhalten, die sie sich zusammengezimmert haben - die befriedigte Frau, die sicher ein Wiedersehen möchte, die in Zukunft vielleicht für sie kocht und ihren Erzählungen über den cholerischen Chef und die anstrengende Mutter zuhört -, dass sie nicht sagen: Gabi, mit dem Kaffee stimmt was nicht. (S.152-153)

"Danke für den Kaffee", sagt Matthias und erlaubt sich den klassischen Blick auf die Uhr, "und für die schöne Nacht." Die Gabi nickt und zieht das mit dem Schweigen weiter durch. Sie hat keinen Bock, ein männliches Ego zu streicheln, noch bevor sie überhaupt geduscht hat. (S.156)

In den Kurzgeschichten, die auch sicherlich unabhängig voneinander zu lesen wären, aber trotzdem miteinander verbunden sind, geht es um Frauen, die genug haben und sich nichts mehr gefallen lassen. Von der Gesellschaft und ihrem Druck, die sie auf Frauen ausübt. Und vor allem von den Männern. Die Frauen sind wütend und haben genug. Sie rächen sich. Anna geht hochschwanger fremd, Simone fotografiert heimlich den schlaffen Penis ihres schlafenden Mannes, Gabi rührt ihren One-Night-Stands morgens Salz in den Kaffee. Moni rächt sich stellvertretend an fremden Männern, den grauenvollen Fall von Giséle Pélicot vor Augen.

Die Geschichten sind böse, provokativ, kompromisslos und oft sehr sehr lustig. Nicht alle haben mir gleich gut gefallen, aber das ist egal. Es fühlt sich befreiend an, den Handlungen der Frauen zu folgen. Vieles mag pauschalisierend daherkommen und Männer kommen in diesem Buch nicht gut weg. Aber natürlich sind die Geschichten mit einem Augenzwinkern zu lesen, sie sollen provozieren und doch steckt auch so viel Wahres in ihnen. Vieles davon ist aber auch einfach nur erschütternd (ich sage nur: Giséle Pélicot, als ein Beispiel).

Die schönste Version
272 Seiten

Erschütterndes, mitnehmendes Buch über die schlimme Geschichte einer Frau in einer übergriffigen Beziehung und die Komplexität die damit einhergeht. Und gleichzeitig erkennt man so viele Gedanken und Verhaltensweisen aus der Jugend wieder, dass es mir oft kalt den Rücken runtergelaufen ist. Auf jeden Fall eine Empfehlung.

Der Lehrer – Will er dir helfen oder will er deinen Tod?
400 Seiten

Seit dem letzten Schuljahr gilt die sechzehnjährige Addie als gebrandmarkt. Entweder will niemand etwas mit ihr zu tun haben oder sie wird gemobbt. Nur ihr Englischlehrer Nate Bennett behandelt sie freundlich, während seine Frau, Addies Mathelehrerin Eve Bennett, umso strenger ist. Eve derweil macht sich Sorgen, dass Addie Nate in einen Skandal verwickeln könnte – doch wer letztendlich wem gefährlich wird, ist nicht so klar, wie es zunächst aussieht …

Ich liebe Freida McFaddens Thriller, weil sie so locker zu lesen, spannend und voller Twists sind, aber selbst sie schafft es nicht, ein Thema wie sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen (und damit deren Missbrauch) auf eine Art und Weise zu schreiben, die zugleich respektvoll und angenehm zu lesen ist. Ich wünschte, das Thema wäre am liebsten ganz weggelassen worden, denn es gibt nun einmal Dinge, die sich meiner Meinung nach nicht für einen locker zu lesenden Thriller eignen. Es war schlicht unangenehm, dabei zuzusehen, wie Addie von Nate ausgenutzt wird – und obwohl ich froh war, dass sie in dieser Beziehung als Opfer dargestellt wurde, ruiniert der Twist die Botschaft des Thrillers ganz schön. Dabei war der Twist selbst fantastisch und hat viele Szenen in ein anderes Licht gerückt, aber im Zusammenhang mit dem unangenehmen Thema hat es für mich nicht ganz funktioniert.

So ziemlich alles, was nichts mit der Lehrer/Schüler-Beziehung zu tun hatte, war gut und ich mochte speziell, wie das Mobbing, das Addie erfährt sowie ihre Gefühle diesbezüglich beschrieben wurden. Dieser Teil der Handlung war überraschend realistisch und führte sehr gut aus, warum so viele Jugendliche zögern, sich Erwachsenen anzuvertrauen. Ich habe sehr mit ihr mitgefühlt und konnte sie zumindest in diesem Aspekt vollkommen verstehen.

Letztendlich würde ich diesen Thriller allerdings nur denjenigen empfehlen, die nichts dagegen haben, dass er sich auf eine sexuelle Lehrer/Schüler-Beziehung fokussiert. Diejenigen, die sich wie ich an solchen Themen in Thrillern (oder überhaupt) stören, werden es allerdings schwerer finden, sich in den Thriller fallen zu lassen.

Die Wut, die bleibt
384 Seiten

Phänomenal gutes Buch. Ein Buch über Frauen und die Mechanismen des Patriarchats. Zwei Generationen mit ihren Geschichten, Erlebnissen und Entwicklungen. Mitreißend. Brutal ehrlich. Ich hab mich an manchen Stellen selbst ertappt gefühlt. Eine Geschichte, die man danach erstmal verdauen muss. Die wütend, aber auch hoffnungsvoll macht. Ein Buch, das man gelesen haben sollte.

Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens
334 Seiten

Unglaublich faszinierend, interessant und berührend. Was ich am meisten mochte war, mit welcher Selbstverständlichkeit die Sexualitäten der Frauen behandelt wurden. Kein ewiges Hin- und Her, und kann man so jetzt nicht sagen, und wir wollen ja nicht über sie urteilen – die Frauen lieben Frauen und das war's. Sehr erfrischend im Umgang mit Geschichte! Am Ende habe ich vielleicht ein bisschen geweint.

Das Patriarchat der Dinge: Warum die Welt Frauen nicht passt
334 Seiten

Das Patriarchat ist selbst dort, wo man – und frau – es nicht erwartet, und in der Regel immer dort, wo es nichts zu suchen hat, nämlich in den Leben von Frauen, nicht-binären Personen und allen anderen, die nicht dem „Standard“ entsprechen, der von weißen cis-Männern festgelegt wurde. Selbst im 21. Jahrhundert ist das Patriarchat so stark, dass es in der Regel akzeptiert wird, ohne es zu hinterfragen. Selbst, wenn frau es hinterfragt, hat sie nicht immer die Möglichkeit, etwas dagegen zu tun, weil alles, was nicht dem Kapitalismus dient, es umso schwerer hat, sich durchzusetzen.

Dabei gibt es so viele Situationen, in denen Frauen und andere Geschlechter benachteiligt werden: In der Sprache (wo sie bei generischem Maskulinum nachweislich nicht mitgedacht werden), im öffentlichen Raum (der z.B. viel mehr Toiletten für cis Männer als für cis Frauen enthält), in der Technik (wo Geräte „für Frauen“ vermarktet und gestaltet werden), auf der Arbeit (wo sämtliche Gegenstände an Männergrößen angelehnt sind), in der Kleidungswahl (dito) und natürlich in der Gesundheit (die kaum Frauen untersucht). Es gibt noch so viel mehr Beispiele, derer wir Leser:innen uns manchmal bewusst sind und manchmal nicht, wobei gerade die Beispiele, der ich mir vor dem Lesen nicht bewusst war, besonders schockierend waren. Es war wirklich traurig, sich bewusst zu werden, WIE viele Benachteiligungen existieren und sogar normalisiert wurden.

Selbst diejenigen, die zu den benachteiligten Gruppen gehören, werden wohl Dinge entdecken, über die sie zuvor nicht nachdachten, während cis Männer wahrscheinlich noch viel, viel mehr lesen werden, das sie überrascht. Leider bin ich mir nicht sicher, inwiefern sie überhaupt zur Leser:innenschaft gehören, doch sie sollten es auf jeden Fall! Aber auch diejenigen, die meinen, bereits zu wissen, auf welche Weisen Frauen es schwerer haben als Männer, werden hier wohl die Augen geöffnet bekommen, weil es einfach so viele kleine, aber wichtige Dinge gibt, die nur auf Männer ausgelegt sind.

Eine gute Empfehlung für alle Leser:innen!