Ilona beneidete Lajos darum, dass er im kleinen Salon seinen Milchgriess essen durfte. Nicht nur, weil sie beim Essen der Innereien ständig daran denken musste, wie die Köchin ihre fleischigen Hände in den dunklen, blutigen Bauch des Tiers gegraben, wie es in der Küche gestunken und wie sich die fetten, glänzenden Schmeissfliegen auf die Fleischklumpen niedergelassen hatten, sondern auch, weil sie Erwachsene nicht ausstehen konnte. Sie verstand nicht, wie man dem Leben so stumpf gegenübertreten, wie man sich einfach von den Jahren überrollen lassen konnte, bis eines der Räder zu schwer war und einen erdrückte. (S.30)
Vielleicht ist man gar nicht sein Leben lang derselbe Mensch, hatte sie gedacht. Vielleicht ist man verschiedene Menschen, die anders denken, fühlen und aussehen und nur durch denselben Namen zusammengehalten werden. (S.157)
All dies waren Menschen mit eigenen Augen, die Dinge gesehen hatten, die den seinen fremd waren, mit eigenen Händen, die nachts nach anderen Schultern griffen, mit eigenen Gedanken, die er kannte oder nie gedacht hatte, mit eigenen Leben, die dem seinen trotz allem im Grunde glichen. Dennoch hatte immer nur sein eigenes gezählt. (S.198)
Eine ungarische Adels-Familiengeschichte, die sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt und drei Generationen begleitet. Die Geschichte beginnt 1900 mit der Geburt von Lajos von Lázár. Seinem Vater Sándor ist der Junge von Beginn an nicht geheuer, unbewusst scheint er zu ahnen, dass er nicht von ihm ist. Lajos' Mutter ist depressiv, sein Onkel geisteskrank, seine Schwester erfährt im Wald Traumatisches. Sein Vater verfällt dem Alkohol, die einst adlige Familie verliert an Glanz. Auch Lajos's Sohn Pista fällt es schwer, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Die Geschichte führt durch beide Weltkriege und den Volksauftand in Ungarn, sie beginnt im Budapester Waldschloss als wohlhabende Adelsfamilie und endet mittellos auf der Flucht in die Schweiz.
Ein Generationenroman einer ungarischen Adelsfamilie, der mich ab der ersten Seite gefesselt hatte. Nelio Biedermann ist ein sehr spannender und dichter Roman gelungen (auf der eigenen Familiengeschichte beruhend), in einer grossartigen Sprache geschrieben. Was mir besonders gefiel: Es geht auch sehr viel um die Frage nach Männlichkeit, um Feminismus, um psychische Krankheiten. Die Geschichte mag vielleicht nach der Hälfte etwas abflachen. Und das Ende fand ich jetzt ein wenig zu kitschig und platt. Aber nichtsdestotrotz ein tolles Buch, welches ich ratzfatz durchgelesen hatte.
Sadie und Sam freunden sich in den Achtziger Jahren als Kinder an. Computerspiele sind ihre Welt. Ihre Freundschaft endet nach einem Streit aprupt. In den Neunziger Jahren begegnen sie sich wieder, mittlerweile studieren beide. Sie freunden sich erneut an und entscheiden sich, gemeinsam ein Computerspiel zu programmieren. Das Spiel hat grossen Erfolg, worauf sie gemeinsam eine Firma gründen. Mit dem Erfolg kommt es jedoch auch zu Rivalitäten, die ihre Freundschaft erneut gefährdet.
Das Buch erstreckt sich von den Achtzigern bis in die 2000er Jahre. Es geht um Freundschaft, Liebe, Verlust, Trauer, Computerspiele, Behinderung. Und über Erfolg sowie das Scheitern.
Ein vielschichtiger Coming-of-Age Roman, aus dem Leben gegriffen, der mir gut gefallen hat - und das, obwohl ich noch nie eine Gamerin war. Ein toller Nebeneffekt ist, dass das Buch einen interessanten Einblick in die Spielentwicklung zeigt. Ein Kapitel gegen Ende des Buches spielt sogar komplett in einem Game. Das fand ich dann aber etwas langatmig und hat mich nicht gecatcht. Doch es lohnt sich, weiterzulesen, denn im Nachhinein macht dieses Kapitel viel Sinn. Was ich auch sehr mochte: die Autorin wählte eine sehr gendersensible Sprache.
Charlotte wäre gerne Musikerin geworden. Aber von ihren Eltern fühlt sie sich unter Druck gesetzt und nimmt daher widerwillig eine Assistenzstelle bei einem grossen Verlag in München an. Die Stadt ist ihr fremd, sie fühlt sich alleine. Beim Verlag merkt sie schnell, dass der Verleger seine Assistentinnen häufig auswechselt. Charlotte ist ehrgeizig und möchte ihrem Chef beweisen, dass sie seinen hohen Ansprüchen gerecht wird. Doch dieser ist launisch und überschreitet regelmässig Grenzen. Schleichend arbeitet sich Charlotte kaputt. In ihrer Freizeit hilft ihr das Joggen, ihre Musik - und kurzzeitig auch ihre neue Liebe.
Dem Plot bin ich sehr gerne gefolgt. Der Schreibstil dieses Buches hat mir jedoch gar nicht gefallen, er wirkt amateurhaft, wenn ich ihn mit den Vorgängerbüchern von Caroline Wahl vergleiche (auch wenn Wahl wahrscheinlich eine komplexere Schreibart wählen wollte). Die ständigen Wiederholungen und kurzen Zeitsprünge begannen mich schon bald zu nerven. Inhaltlich konnte ich dem Buch aber trotzdem viel abgewinnen, gerne nahm ich Einblick in offensichtlich autobiografische Erlebnisse, die Wahl in diesem Buch verschriftlichte. Mir war die Protagonistin nicht durchweg sympathisch, nichtsdestotrotz habe ich mit ihr aber mitgelitten. Toll, wenn sich Wahl durch dieses Buch ein dunkles Kapitel aus ihrem Leben von der Seele schreiben konnte.
Die Frage, die in meinem Stück eine grosse Rolle spielen wird, sagt er nach einer kurzen Pause, ist das Warum. Nicht als abgeschlossene Wahrheit natürlich, als letztes Wort. Mir ist klar, man kann sich an diese Frage immer nur annähern und keine endgültige Antwort finden. Trotzdem würden mich deine Gedanken dazu interessieren. Wenn es dir nichts ausmacht. Es macht mir nichts aus, antworte ich. Aber ich weiss nicht so genau, was ich dir anbieten kann. Du musst mir nichts anbieten, sagt der Dramatiker. Aber es ist mein Gefühl, fährt er fort, dass Verarbeitung auch bedeutet, zumindest für sich selbst eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu finden. Vielleicht auch nur eine vorläufige. (S.91-92)
Ich bin mir nicht sicher, ob man unbedingt zwanzig Jahre später ein Buch über den Erfurter Amoklauf schreiben muss, Wunden aufreissen, einen Topf umrühren, den man vielleicht ganz in Ruhe lassen sollte. Welchen plausiblen Grund es dafür geben könnte. Was ich weiss, ist, dass meine Gliedmassen heute, in den Zwanzigerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, taub werden, wenn ich Erfurt zu nahe komme, und meine Luftröhre sich verschliesst. [...] Nach einem halben Jahr des Schreibens weiss ich immer noch wenig über meine eigene Motivation, aber ich weiss, dass ich nichts aus dem Amoklauf "lernen" will, weil er kein Schulbuch, kein Schaubild, kein Merksatz ist, dass ich nichts aus ihm "schöpfen" will, denn er ist kein Waschbecken und kein Brunnen, sondern ein reales Ereignis, in dessen Folge heute siebzehn Menschen nicht mehr leben. (S.120)
Traumatherapie, das bedeutet nicht, zu trauern. Nicht mal, mit Trauer umzugehen. Es bedeutet, sich etwas Grundlegendes zurückzuholen, einen Boden unter den Füssen, auf dem man dem traumatisierenden Ereignis entgegentreten kann. Einen Zugang zu seinem eigenen Inneren zurückzugewinnen, der Dissoziation, der Abspaltung des Ereignisses entgegenzuwirken. Das Trauma ist eine Schutzreaktion des Körpers, es entfernt einen von der Welt, schneidet ein Stück ab, das gewaltsam versucht, sich den Weg zurück zu erkämpfen. (S.152)
Mich interessiert, was man darf, beende ich den Satz. [...] Sich eine Geschichte nehmen, sich einer Geschichte anzunehmen, einer brutalen, gewaltvollen Geschichte, das kommt mir [...] anmassend vor [...]. Du hast den Amoklauf erlebt, sagt der Dramatiker. Du bist Betroffener dieser Gewalt. Ja, sage ich. Aber bin ich betroffen genug? Ich habe im Gegensatz zu meinen Mitschülern keinen Mord und kein Blut gesehen, ich war nur anderthalb Jahre auf der Ausweichschule und bin dann weggezogen, ich bin vielleicht nicht der Richtige, um diese Geschichten zu erzählen. Ich schreibe ja nicht nur über mich selbst. Ich rühre einen Topf um, von dem ich nicht weiss, ob ich mich ihm überhaupt nähern sollte, einen völlig fremden Topf, so fühlt es sich an, als würde ich irgendwo durch ein Fenster einsteigen, um einen Topf umzurühren. (S.168-169)
Kaleb Erdmann erlebt 2002 als elfjähriger Schüler den Amoklauf in seiner Schule, dem Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. 17 Menschen sterben. Sein Buch handelt davon, auch der Protagonist scheint er zu sein. Zwanzig Jahre später überrollt ihn das traumatische Erlebnis erneut, als ein Dramatiker, der ein Bühnenstück über Amoklauf schreiben möchte, mit ihm in Kontakt tritt. Er beginnt selbst, ein Buch über seine Erinnerungen zu schreiben, kommt aber immer wieder ins Zweifeln und fragt sich, ob er überhaupt berechtigt ist, nach so vielen Jahren darüber zu schreiben, alte Wunden aufzureissen. Ob er die richtige Person ist, darüber zu schreiben. Ob seine Erinnerungen akkurat genug sind. Und er stellt sich Fragen: Welche Sprache wird dem Ereignis gerecht, ist genug respektvoll?
Das Buch ging mir sehr nahe und liess mich, auch längst nachdem ich es ausgelesen hatte, nicht los. Der innere Kampf des Protagonisten ist sehr gut spürbar, sein Hadern, sein Ringen. Es fällt ihm schwer, sich mit diesen Erinnerungen auseinanderzusetzen. Eine Schwere begleitet ihn durch das ganze Buch hinweg. Seine reflektierte Art, sein ständiges Hinterfragen seines Tuns berührten mich sehr. Das Buch regt zum Nachdenken an, berührt, erschüttert und nahm mich sehr mit. Die Sprache sehr schön gewählt, sehr "nahe" und persönlich.
Ich beschloss, so lange unglücklich zu bleiben, wie es nur ging, denn das Glück brachte nichts als Trägheit und Stillstand, oder vielleicht sogar - Gott bewahre - ein Haus. Das konnte ich mir nicht leisten. (S.10)
Moskau, 2006. Die Studentin Karina ist jung, mittellos und träumt davon, nach Europa auszuwandern. Gemeinsam mit Tonya, ihrer besten Freundin, die dieselben Träume teilt wie sie, schummelt sie sich durchs arme Leben in Moskau. Sie teilen sich betrunkene Männer, ihr letztes Kleingeld, legendäre Partynächte und Familienkonflikte. Als die Möglichkeit eines Stipendiums in Berlin aufploppt, gibt sie alles - und Tonya gibt ihr schmerzhaft zu verstehen, dass sie ihren Traum wohl grösser stellt als die Freundschaft zu ihr.
In der Protagonistin Karina steckt sehr viel vom Leben der Autorin drin, auch sie studierte in Moskau politischen Journalismus und wechselte dann zu einer Uni in Berlin, wo sie seither wohnt. Da ich selbst zwischen 2001 und 2007 oft in Russland war, war mir vieles nicht unbekannt, was sie über die russische Kultur und Eigenheiten preisgab. Genau das fand ich sehr spannend und sorgte bei mir für viele Erinnerungen. Ohne diesen Bezug hätte ich das Buch aber wohl kaum beendet. Mir gefiel ihre Sprache nicht, zu plump. Zwar witzig, aber nicht in meinem Geschmack.
There was of course no way of knowing whether you were being watched at any given moment. How often, or on what system, the Thought Police plugged in on any individual wire was guesswork. It was even conceivable that they watched everybody all the time. But at any rate they could plug in your wire whenever they wanted to. You had to live - did live, from habit that became instinct - in the assumption that every sound you made was overheard, and, except in darkness, every movement scrutinized. (S.4)
He was not certain that he would use the razor blade even if he got the chance. It was more natural to exist from moment to moment, accepting another ten minutes' life even with the certainty that there was torture at the end of it. (S.165)
Es ist das Jahr 1984. In der Welt bestimmt ein totalitärer Überwachungsstaat das Leben aller Menschen. Es ist eine Welt, in der "Big Brother" ständig zusieht und die Thought Police auch die privatesten Gedanken überwacht. "War is Peace", "Freedom is Slavery", "Ignorance is Strenght" sind die Slogans der Partei. Die Partei entwickelte eine neue Sprache ("Newspeak"), um durch die reduzierten Anzahl Wörter auch die rebellischen Gedanken zu eliminieren. Winston Smith arbeitet im Ministry of Truth. Seine Aufgabe besteht darin, historische Aufzeichnungen im Sinne der Partei umzuformulieren und die wahre Vergangenheit somit auszulöschen. Trauen kann er keiner Person, Winston lebt in ständiger Angst und Unruhe. Er hinterfragt die Realität, die die Partei vorgibt und verachtet das Regime. Als er sich in Julia verliebt, träumen sie vom Ende der Unterdrückung. Auch sie verachtet das Regime. Ihre Beziehung ist ein Akt der Rebellion. Sie werden verraten und kommen in Haft, wo sie gefoltert und manipuliert werden. Im berüchtigten Raum 101 werden sie mit ihren schlimmsten Ängsten konfrontiert - was dazu führt, dass er letztlich phsysisch und psychisch gebrochen wird.
Endlich habe ich mich dem Klassiker angenommen. Erschreckend, wie die Relevanz dieses Buches bis heute anhält. Besonders das Kapitel über die Newspeak fand ich sehr spannend. Mir gefiel es, dass sich Orwell die Zeit dafür nahm, seiner erfundenen Sprache im Buch so viel Raum zu geben. Das Kapitel, welches Einblick in "The book" gibt, fand ich hingegen etwas langatmig. An gewissen Stellen fragte ich mich, wie realistisch Winstons Handeln war (als Julia ihm den Zettel zusteckt, verfliegt bei ihm jegliches Misstrauen gegen sie, das er vorgängig noch hatte - zum Beispiel). Aber das sind Details. Beeindruckend fand ich, wie brutal sich das Ende liest, ohne dass das Foltern gross detailliert beschrieben wird. Ein Buch, das noch lange nachhallen wird.
Juno ist Künstlerin, mit Theater und Tanz verdient sie ihr Geld. Ihr Mann ist schwer pflegebedürftig. Tagsüber kümmert sie sich um ihn und geht zu ihren Proben. Nachts lenkt sie sich von ihrer Schlaflosigkeit ab und chattet im Internet mit Love-Scammern. Bei jeder neuen Chat-Anfrage erfindet sie neue Lügen, die sie den Männern erzählt und entlarvt ihre Maschen, bis sie sich schnell wieder verziehen. Benu aus Nigeria bleibt länger. Mit ihm beginnt sie nach und nach eine Freundschaft via Chat und Videocalls.
Mich machte der Plot neugierig. Er klang "neu". Beeindruckend, wie Juno trotz aller Sorgen (Geld, Pflege ihres Mannes, Älterwerden, Schlafproblemen) die Lebenskraft, die Liebe und Fürsorge zu ihrem Mann nicht verliert. Die Sprache teilweise schön poetisch, ergreifend. Mehr empfand ich dann aber doch nicht, nachhaltig berührt hat es mich nicht.
Das Hörbuch ist angenehm gelesen.
Sie hatten darüber gesprochen, dass man noch immer nicht wusste, was die Hitzewallungen verursacht, ist das nicht seltsam, stell dir vor, der Mensch war auf dem Mond, und man kann sein Kind auf der anderen Seit der Erdkugel sprechen und dabei sehen, man kann jedoch nicht erklären, woher dieser Hitzeschwall kommt, warum sich die oberflächlichen Blutgefässe weiten, warum das Herz zu pochen beginnt, aber so ist es eben, und ist das natürlich, soll man das einfach ertragen, überlegt Jenny Hill in ihrem Bett. (S. 31-32)
Dornröschen: Ach Jenny, du kleine, widerstandsfähige Frau! Jede Nacht ist eine Zaubernacht, solange der Mensch auf Erden sein darf, aber das bedenkt und begreift niemand. Jeder Tag ist ein Wunder, jeder Atemzug, der Mensch an sich, das Leben! Jeder funkelt wie ein Stern am Himmel der Existenz und ist wichtig, einzigartig, ganz besonders, und verdient deshalb alle Liebe, Anerkennung und Wärme der Welt. [...] Du bist vollkommen, so wie du bist, einzigartig wie eine Schneeflocke, und wie du aus der Höhe zur Erde gleitest, ist ganz allein deine Sache. (S.92-93)
Rotkäppchen: Ich hasse es, dass man aus mir ein warnendes Beispiel gemacht hat. ich hasse es, dass Angstmache ein konventioneller Weg ist, um den äussersten Enden des Binärsystems toxische Cis-Privilegien zu vermitteln. Du musst gehorchen, sonst dringt ein fremder Mann in einem unbekannte Wald in deinen unschuldigen Schlüpfer ein. Sei nicht dumm, sonst wirst du vergewaltigt. (S.185)
Jenni Mäki ist Ende 40. Ihre beiden Kinder sind ausgeflogen. Sie trennt sich von ihrem Mann, bricht aus ihrem unglücklichen Leben aus und fängt mit einem neuen Namen, Jenny Hill, von vorne an. Ihre Therapeutin rät ihr, ihre Gedanken zu verschriftlichen, weil es ihr schwer fällt, über ihr Inneres zu sprechen. Sie beginnt, Briefe an Brigitte Macron zu schreiben (die sie natürlich nicht verschickt).
Begleitet wird Jenny von weiblichen Märchenfiguren, die ich als ihre inneren Stimmen verstand. Sie brechen mit den traditionellen Verhaltensmustern, die den Frauen über Jahrhunderte auferlegt wurden und kommunizieren mit Jenny, sprechen ihr gut zu, oder rügen sie auch.
Ich brauchte etwas Zeit, um in den Roman reinzukommen. Die Kapitel von den Märchenfiguren verwirrten mich zu Beginn stark und ich empfand die Kapitelwechsel als störend, aber schon bald begrüsste ich diese Perspektivenwechsel und ab da gefiel mir die Geschichte sehr. Besonders die Briefe an Brigitte Macron fand ich schön, die Entwicklung, die sich darin bei Jenny abzeichnete, wie sie zu Beginn kaum weiss, was sie schreiben soll und wie es ihr von Brief zu Brief immer leichter fällt, ihre Gedanken festzuhalten. Wie sie der Empfehlung der Theraupeut erst gar nicht traut und eher widerwillig damit beginnt, das Schreiben ihre Therapie aber schliesslich deutlich unterstützt. Ihren Weg zur Emanzipation ist von Kapitel zu Kapitel spürbar. Schön auch, wie das Hadern mit den Wechseljahren thematisiert wurde, gar nicht aber verteufelt wird. Ich mag Minna Rytisalos Sprache. Und ich mochte es sehr, wie auch dieser Roman (wie auch "Lempi") wieder aus drei Ebenen besteht (die Erzählweise von Jenny Hill, die Briefe an Macron, die inneren Stimmen der Märchenfiguren). Auch wenn es für mich zuerst eine Angewöhnung brauchte.
Inzwischen habe ich begriffen, es grenzt an ein Wunder, wenn man geliebte Menschen um sich hat und sie nicht zu früh verliert. Ein noch grösseres Wunder ist es, wenn es einem mehrmals im Leben gelingt, jemanden zu finden, der es gut mit einem meint. (S.50)
Mein Ärger würde uns beide nicht weiterbringen, aber ich hatte keine Lust mehr, mich zurückzuhalten. Ich wollte mich nicht länger so ratlos fühlen. Mir war klar, das dies ein denkbar ungünstiger Moment war, hier, in der Wohnung, in der wir jetzt einpacken sollten, statt zu streiten. Aber so ist es, beides ist gleichzeitig möglich, die Erkenntnis über das eigene destruktive Verhalten und die Tatsache, dass man es trotzdem weitertreibt. (S.98)
"Zum ersten Mal, zum allerersten Mal ist es so, dass ich nicht weiterkomme. Dass ich nicht zurechtkomme. Und du erträgst das nicht. Schon nach einer Woche hast du es kaum ausgehalten, das habe ich gespürt", sagte sie. "Mir ist klar, dass es so nicht bleiben kann, und natürlich frage ich mich, was mit mir los ist. Aber kannst du nicht ein wenig Vertrauen haben, dass ich das herausfinde? Dass ich mir in meinem eigenen Tempo selbst zu helfen weiss?" Sie klang so besonnen, so viel reflektierter als ich. "Lass mir diese Ruhe doch. Was sind schon einige Wochen, in denen alles etwas langsamer läuft? Zwei, drei Monate in einem ganzen Leben?" (S.100)
Annett ist Ende 40 und lebt seit vielen Jahren auf einer Halbinsel im nordfriesischen Wattenmeer an der Nordsee. Ihr Mann ist sehr früh und plötzlich gestorben, als ihre gemeinsame Tochter Linn gerade mal 5 Jahre alt war. Linn studierte Umwelttechnik, war als Umweltvolontärin in verschiedenen Wäldern Europas unterwegs und arbeitet für ein Aufforstungsprojekt. Sie hat beruflich vieles erreicht, Annett ist stolz auf sie. An einer Tagung, wo Linn einen Vortrag hält, bricht sie aus Erschöpfung zusammen. Annett nimmt sie zu sich auf die Halbinsel. Aus einer Woche werden mehrere Monate, Linn kündigt ihre Stelle und Wohnung und nimmt sich sehr viel Zeit, herauszufinden, was sie möchte. Annett ist zwar voller Sorge und ringt doch mit Linns Entscheid, sie will nur das Beste für sie, aber was ist das schon? Es entstehen Konflikte, Ungeduld zeigt sich, Unverständnis.
Mir hat das Buch und besonders dessen melancholische Melodie, die sich durch die gesamte Geschichte zieht, sehr gefallen. Es wird in der Ich-Perspektive von Annett in einer sehr ruhigen Stimme erzählt. Annett gibt im Laufe der Geschichte immer mehr Preis von ihrer Vergangenheit, vom Tod ihres Mannes, dem Weiterleben als Witwe und Alleinerziehende. Nicht jede Entscheidung, die Annett trifft, konnte ich nachvollziehen (beispielsweise der Besuch des Gemälderestaurators), aber das ist nur ein Detail.
Johanna verlässt in jungen Jahren ihren Ehemann, Eltern und Heimatort, um in den USA eine Kunstausbildung zu machen und ihre neue Liebe zu heiraten. In der Beziehung zu ihren Eltern und Schwester löst dieser Wegzug einen ersten Bruch aus. Als sie nach dem Tod ihres Vaters nicht zur Beerdigung auftaucht, brechen ihre Mutter und Schwester den Kontakt ganz ab. Mit 60 Jahren kehrt Johanna in ihre Heimatstadt zurück. Sie sucht den Kontakt zu ihrer Mutter, die aber jegliche Kontaktaufnahme verweigert. Auch ihre Schwester gibt ihr klar zu verstehen, dass sie nicht erwünscht sei. Doch Johanna hat Fragen. In ihren aufkommenden Erinnerungen an ihre Kindheit entdeckt sie das eine oder andere, was ihr als Kind noch nicht aufgefallen war. Dinge, die ihre Mutter in ein anderes Licht rücken. Sie erzwingt den Kontakt mit ihr, auf der Suche nach Antworten.
Vigdis Hjorth schreibt sehr berührend und authentisch, ich fragte mich immer, ob es sich hier wohl um einen autofiktionalen Roman handele. Die Geschichte geht sehr tief und ist psychologisch sehr spannend (Mutter-Tochter-Beziehung). Ihre Sprache (bzw. die Sprache der Übersetzung) gefiel mir sehr. Zudem hat die Sprecherin es auch toll gelesen.
<"Drug, wir brauchen solche Leute wie dich", sagte Schabla damals, und du wusstest, das sind keine leeren Komplimente, und du wusstest auch, es geht ihm nicht darum, dass du für den Kriegsdienst besonders geeignet wärst. Aber du kannst drei Sprachen, darunter Ukrainisch, du kannst einen Geländewagen steuern, sogar im Gelände, du weisst, wei ein Reduktionsgetriebe funktioniert und wozu man die Achsblockierung braucht, du kannst schiessen, obwohl diese Fähigkeit hier nicht so entscheidend ist, du bist körperlich einigermassen in Form, läufst immer noch zehn Kilometer in der Stunde und schaffst fünf Klimmzüge, bist entscheidungsstark, gerätst nicht in Panik, bist ein guter Organisator, mehr braucht man für so einen Krieg nicht. (S.94)
Das warst du und bist es weiterhin, der Mensch, den man nicht töten kann, weil er schon ohne Leben ist. [...] einer, der den Tod sucht und jetzt plötzlich festgestellt hat, dass er doch leben will, einer, der im Chaos der Welt wenigsten ein paar Spuren von Sinn finden wollte und mitten in der Brandung begann, die Sandkörner am Strand zu ordnen. (S.100)
"Warum hast du gesagt, wir leben nicht mehr?", fragst du Jagoda erneut. "So muss man denken", antwortet Jagoda. "Damit man vor Angst nicht durchdreht. Wenn du glaubst, du bist schon tot, hast du zwar weiter Angst, klar, Angst muss man haben, wer keine Angst hat, der ist verrückt, der zieht sich und den Kameraden Probleme auf den Hals. Am schlimmsten sind die, die keine Angst haben, Idioten. Aber wenn du glaubst, du könntest leben, wenn du glaubst, es gibt etwas nach dem Krieg, irgendeine Art von Leben, [...] dann kriegt die Angst dich zu packen; wenn du an eine Leben nach dem Krieg glaubst, willst du unbedingt bis dahin leben, du wirst schliesslich die Maschinenepistole auf Dauerfeuer stellen und sie dir unters Kinn setzen, denn wenn jemand das Kriegsende erleben will, dann wird der Krieg unerträglich, und besser nicht zu leben, als auf ein Leben nach dem Krieg zu warten." (S.129)
Die Hauptfiguer, der Soldat Kón, kommt aus einer ukrainisch-polnischen Familie, aufgewachsen in Polen. Als Freiwilliger ist er in den Krieg gezogen und harrt nun als Drohnenflieger nahe der Nulllinie aus. Es geht brutal zu und her, Twardoch beschönigt nichts. Die Sprache der Soldaten ist derb, die Hoffnung auf ein Überleben gleich Null.
Ein Buch, welches erschüttert und ein grausames Bild zeigt, was in der Ukraine gerade passiert. Ein Buch nahe der Soldaten. Die einzelnen Exkurse zu antiker Literatur hätten mich etwas durchatmen lassen, interessierten mich jetzt aber nicht so. Viele technische Ausführungen des Krieges verstand ich nicht.
Auf jeden Fall ein schwer verdauliches Buch, aber eines, das sich lohnt.
Rika ist eine junge Journalistin. Sie recherchiert über Manako Kajii, eine verurteilte Serienmörderin, die alte ledige Männer erst verführt (sexuell und vor allem auch mit ihren Kochkünsten) und dann umgebracht haben. Sie gilt mit etwas mehr als 70Kg als fett. Ihre grosse Leidenschaft ist der kulinarische Genuss und vor allem Butter (Margarine verabscheut sie). Rika darf sie regelmässig im Gefängnis besuchen, aber nur, um über ihre Kochkünste zu reden. Rika hat bislang nie gekocht, ihre Neugierde ist jedoch geweckt und sie beginnt, den Kochempfehlungen der Serienmörderin zu folgen und tastet sich ans Kochen heran. Mit dem Kochen nimmt Rika zu, ursprünglich noch 49 Kg, ist sie nach wenigen Monaten 7 Kg schwerer. Das bleibt nicht unerkannt, dumme Sprüche und Ablehnung muss sie aushalten.
Im Buch geht es sehr viel um Kulinarik, aber auch um gesellschaftliche Erwartungshaltungen Frauen gegenüber. Es geht um die Emanzipierung und das Gegenhalten patriarchaler Strukturen. Stark japanisch geprägt, sowohl gesellschaftlich, als auch kulinarisch.
Eine sehr humoristische (gar satirische) und teilweise ziemlich absurde Geschichte, die einem immer wieder Lust aufs Essen machte. Wobei ich Butter ja gar nicht mag, und diese doch omnipräsent ist im Buch. :)
Ich fühlte mich durchgehend sehr unterhalten.
10 verschiedene Geschichten erzählen differenziert über diverse erste Male: den ersten Kuss, das erste Masturbieren, den ersten Kontakt mit einem Porno, die ersten ungewollten Berührungen, den ersten Sex etc.
Die Autorin schafft es, sehr authentisch und auf Augenhöhe der Jugendlichen zu schreiben. Die Geschichten sind packend und lesen sich schnell. Ich hätte mir ein solches Buch gewünscht, als ich selbst ein Teenager war. Das hätte mir sicherlich bei vielen Unsicherheiten geholfen. Es ermutigt, den eigenen Gefühlen zu vertrauen.
Am liebsten sagte sie aber, dass er noch besser darin gewesen sei, Witze zu. machen. Und auch wenn ich nicht der war, der fand, dass alle in allem die Besten sein mussten, fand ich es schön, was sie über ihn sagte. (S.30)
Ich ging ins Haus, um mich umzuziehen, und dachte, dass ich mir selbst auch leidtun würde, wenn ich mich im Spiegel sähe. Weil es halt komisch ist, wenn man Badehosen von gestern anhat, während man selbst schon komplett so aussieht wie heute. (S. 110)
Luchs ist Mitte 30 und kognitiv leicht beeinträchtigt. Er ist ein Aussenseiter, ohne Ausbildung. Er arbeitet als Nachtwächter auf einem Friedhof. Eines Nachts lernt er die 13-jährige Teresa kennen. Nach einem holprigen Start freunden sie sich an. Und Teresa gibt ihm Selbstvertrauen, Neues zu lernen und seinem Traum, seine Geschichte zu schreiben, doch noch nachzugehen.
Flurin Jecker findet eine sehr einfache, authentische Sprache für seine Romanfigur. Luchs ist eine sehr liebenswürdige Figur, die Freundschaft mit Teresa sehr berührend. Eine schöne Geschichte, die zum Nachdenken anregt. Denn die kognitiv Nicht-Beeinträchtigten können eine Menge davon lernen. Im Moment zu leben und die kleinen Dinge zu geniessen, beispielsweise. Mir hat das Buch sehr gefallen.
Cora ist mit ihrer 9-jährigen Tochter Maia auf dem Weg zur Registrierung ihres neugeborenen Sohnes. Auf dem Weg dorthin reden Cora und Maia über den Namen des Babys. Coras Mann, Gordon, hat entschieden, dass er Gordon heissen soll, wie jeder erstgeborene Sohn seiner Familie seit Generationen. Maia hätte ihn gerne "Bear" getauft, Cora hätte gerne einen Julian gehabt. Die Autorin spielt mit allen drei Möglichkeiten. Die Kapitel sind ab der Registration jeweils dreigeteilt, und zwar in "Bear", "Julian" und "Gordon". Je nach Coras Entscheidung, wie sie ihren Sohn tatsächlich dann registriert, verläuft die Geschichte des Jungen sowie der gesamten Familie total anders. Bei jedem neuen Kapitel macht die Geschichte einen Sprung von 7 Jahren. Das letzte Kapitel passiert 35 Jahre nach der Registrierung des Jungen. Was sich in allen drei Lebensentwürfen nicht ändert: Cora erlebt häusliche Gewalt, die Familie ist geprägt von einem gewalttätigen Vater, der nach aussen hin hoch respektiert wird als Arzt.
Mir gefallen solche "Was-wäre-wenn"-Geschichten sehr. Das Buch hat mich ab Beginn gefesselt und ich fand es durchweg sehr spannend. Ich musste mir aber Notizen machen zu jedem Namenskapitel, um kein Durcheinander zu kriegen, was in welcher Version passiert. Die Schicksale der einzelnen Familienmitglieder haben mich sehr berührt.