Die Frage, die in meinem Stück eine grosse Rolle spielen wird, sagt er nach einer kurzen Pause, ist das Warum. Nicht als abgeschlossene Wahrheit natürlich, als letztes Wort. Mir ist klar, man kann sich an diese Frage immer nur annähern und keine endgültige Antwort finden. Trotzdem würden mich deine Gedanken dazu interessieren. Wenn es dir nichts ausmacht. Es macht mir nichts aus, antworte ich. Aber ich weiss nicht so genau, was ich dir anbieten kann. Du musst mir nichts anbieten, sagt der Dramatiker. Aber es ist mein Gefühl, fährt er fort, dass Verarbeitung auch bedeutet, zumindest für sich selbst eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu finden. Vielleicht auch nur eine vorläufige. (S.91-92)
Ich bin mir nicht sicher, ob man unbedingt zwanzig Jahre später ein Buch über den Erfurter Amoklauf schreiben muss, Wunden aufreissen, einen Topf umrühren, den man vielleicht ganz in Ruhe lassen sollte. Welchen plausiblen Grund es dafür geben könnte. Was ich weiss, ist, dass meine Gliedmassen heute, in den Zwanzigerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, taub werden, wenn ich Erfurt zu nahe komme, und meine Luftröhre sich verschliesst. [...] Nach einem halben Jahr des Schreibens weiss ich immer noch wenig über meine eigene Motivation, aber ich weiss, dass ich nichts aus dem Amoklauf "lernen" will, weil er kein Schulbuch, kein Schaubild, kein Merksatz ist, dass ich nichts aus ihm "schöpfen" will, denn er ist kein Waschbecken und kein Brunnen, sondern ein reales Ereignis, in dessen Folge heute siebzehn Menschen nicht mehr leben. (S.120)
Traumatherapie, das bedeutet nicht, zu trauern. Nicht mal, mit Trauer umzugehen. Es bedeutet, sich etwas Grundlegendes zurückzuholen, einen Boden unter den Füssen, auf dem man dem traumatisierenden Ereignis entgegentreten kann. Einen Zugang zu seinem eigenen Inneren zurückzugewinnen, der Dissoziation, der Abspaltung des Ereignisses entgegenzuwirken. Das Trauma ist eine Schutzreaktion des Körpers, es entfernt einen von der Welt, schneidet ein Stück ab, das gewaltsam versucht, sich den Weg zurück zu erkämpfen. (S.152)
Mich interessiert, was man darf, beende ich den Satz. [...] Sich eine Geschichte nehmen, sich einer Geschichte anzunehmen, einer brutalen, gewaltvollen Geschichte, das kommt mir [...] anmassend vor [...]. Du hast den Amoklauf erlebt, sagt der Dramatiker. Du bist Betroffener dieser Gewalt. Ja, sage ich. Aber bin ich betroffen genug? Ich habe im Gegensatz zu meinen Mitschülern keinen Mord und kein Blut gesehen, ich war nur anderthalb Jahre auf der Ausweichschule und bin dann weggezogen, ich bin vielleicht nicht der Richtige, um diese Geschichten zu erzählen. Ich schreibe ja nicht nur über mich selbst. Ich rühre einen Topf um, von dem ich nicht weiss, ob ich mich ihm überhaupt nähern sollte, einen völlig fremden Topf, so fühlt es sich an, als würde ich irgendwo durch ein Fenster einsteigen, um einen Topf umzurühren. (S.168-169)
Kaleb Erdmann erlebt 2002 als elfjähriger Schüler den Amoklauf in seiner Schule, dem Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. 17 Menschen sterben. Sein Buch handelt davon, auch der Protagonist scheint er zu sein. Zwanzig Jahre später überrollt ihn das traumatische Erlebnis erneut, als ein Dramatiker, der ein Bühnenstück über Amoklauf schreiben möchte, mit ihm in Kontakt tritt. Er beginnt selbst, ein Buch über seine Erinnerungen zu schreiben, kommt aber immer wieder ins Zweifeln und fragt sich, ob er überhaupt berechtigt ist, nach so vielen Jahren darüber zu schreiben, alte Wunden aufzureissen. Ob er die richtige Person ist, darüber zu schreiben. Ob seine Erinnerungen akkurat genug sind. Und er stellt sich Fragen: Welche Sprache wird dem Ereignis gerecht, ist genug respektvoll?
Das Buch ging mir sehr nahe und liess mich, auch längst nachdem ich es ausgelesen hatte, nicht los. Der innere Kampf des Protagonisten ist sehr gut spürbar, sein Hadern, sein Ringen. Es fällt ihm schwer, sich mit diesen Erinnerungen auseinanderzusetzen. Eine Schwere begleitet ihn durch das ganze Buch hinweg. Seine reflektierte Art, sein ständiges Hinterfragen seines Tuns berührten mich sehr. Das Buch regt zum Nachdenken an, berührt, erschüttert und nahm mich sehr mit. Die Sprache sehr schön gewählt, sehr "nahe" und persönlich.
Kaleb Erdmann erlebt 2002 als elfjähriger Schüler den Amoklauf in seiner Schule, dem Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. 17 Menschen sterben. Sein Buch handelt davon, auch der Protagonist scheint er zu sein. Zwanzig Jahre später überrollt ihn das traumatische Erlebnis erneut, als ein Dramatiker, der ein Bühnenstück über Amoklauf schreiben möchte, mit ihm in Kontakt tritt. Er beginnt selbst, ein Buch über seine Erinnerungen zu schreiben, kommt aber immer wieder ins Zweifeln und fragt sich, ob er überhaupt berechtigt ist, nach so vielen Jahren darüber zu schreiben, alte Wunden aufzureissen. Ob er die richtige Person ist, darüber zu schreiben. Ob seine Erinnerungen akkurat genug sind. Und er stellt sich Fragen: Welche Sprache wird dem Ereignis gerecht, ist genug respektvoll?
Das Buch ging mir sehr nahe und liess mich, auch längst nachdem ich es ausgelesen hatte, nicht los. Der innere Kampf des Protagonisten ist sehr gut spürbar, sein Hadern, sein Ringen. Es fällt ihm schwer, sich mit diesen Erinnerungen auseinanderzusetzen. Eine Schwere begleitet ihn durch das ganze Buch hinweg. Seine reflektierte Art, sein ständiges Hinterfragen seines Tuns berührten mich sehr. Das Buch regt zum Nachdenken an, berührt, erschüttert und nahm mich sehr mit. Die Sprache sehr schön gewählt, sehr "nahe" und persönlich.