Der Direktor sagte, wir würden nun eine Schweigeminute für die [9/11-] Opfer abhalten. Ich fühlte mich unwohl, ich wusste nicht, woran ich in der Stille denken sollte. Den Tod kannte ich nur aus König der Löwen, als Simba seinen Vater anstupste, bis er verstand, dass der nie wieder brüllen würde. (S.12-13)
Wir haben diesen Unsinn nie gefilmt. Unsere Nokia 3310 konnten das nicht. Und darin lag seine besondere Schönheit. Alles, was wir erlebten, war reine Gegenwart. Dokumentiert nur in unserer Erinnerung, wo es durch das Wieder-und-wieder-Erzählen immer grösser und schöner und wichtiger wurde, als es jemals in echt gewesen sein konnte. Wir waren da, an dem Ort, in dem Moment. Und nirgends sonst. (S.70)
Seydack ist 1990 geboren. Er berichtet im Buch über das Aufwachsen in den Neunzigern, welches ab 9/11 geprägt ist von Terror und Gewalt, zwar nicht direkt vor seiner Haustüre, aber weltweit. Er schreibt über seine Kindheit, den Schul- und Studienabschluss, die Praktikas und den holprigen Berufsstart im Lockdown. Mit dabei all seinen Unfug, damalige Popkultur und viel Zeitkolorit, in dem ich mich immer wieder selbst sah, einfach 9 Jahre älter. Sehr interessant zu lesen, vieles wurde mir erst durch das Buch wieder in Erinnerung gerufen und hat mich gedanklich zurück in meine Kindheit geworfen. Seydack selbst blieb mir bis am Ende nicht wirklich sympathisch, seine Art des Schreibens missfiel mir immer wieder. Zu fest schliesst er von sich auf die gesamte Generation. Trotzdem eine unterhaltsame Lektüre über die Generation der Millenials.
Polina schaute hinter jede Tür, steckte ihren Kopf in die Tümpel im Moor, um zu prüfen, was darin war, fasste jeden Käfer an und nahm die meisten davon in den Mund. Hätte sie Ungeheuer gefunden, hätte Polina mit ihnen getanzt. (S.34)
Er wollte, dass sie ihn hörte. Nicht aus Selbstlosigkeit, aber wann war Liebe je selbstlos gewesen? (S.218)
Hannes' und Polinas Mütter lernen sich bei ihrer Geburt im Spital kennen, es entsteht eine Freundschaft, die beiden Kinder wachsen gemeinsam auf. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein, Polina sehr wild und abenteuerlich, Hannes hingegen träge und langsam. Seine Faszination gilt der klassischen Musik und dem Klavierspielen. Mit 14 verliebt sich Hannes in Polina. Er komponiert ihr eine eigene Melodie. Doch die Liebe scheint nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen, als junge Erwachsene trennen sich ihre Wege. Er hört mit dem Klavierspielen auf, wird trotz seiner schmächtigen Figur Klavierschlepper, seine Gedanken bleiben aber bei Polina. Bis er sich nach Jahren eingesteht, dass er Polina wiederfinden muss. Und zwar mithilfe ihrer Melodie...
Ab der ersten Seite hat das Buch einen einnehmenden Rhythmus. Es liest sich wie eine wunderschöne Melodie. Manche mögen die Geschichte schnulzig und/oder kitschig finden, ich sehe es aber anders. Würger schaffte es, mich mit seiner Sprache leichtfüssig durch die Geschichte zu tragen, die Musik immer im Ohr. Über einen allfälligen Kitsch konnte ich gut hinwegsehen. Ein Herzerwärmendes Buch.
Wie bei jedem seiner Besuche seit dem vergangenen Frühjahr - seitdem sie durchs Watt spaziert waren, seitdem sie einander alles erzählt hatten, worüber sie sonst zu keinem sprachen - sagte Johann im Dunkeln, wie um ihr Zusammensein zu beschwören: "Jetzt noch acht Tage und später für immer." (S.25)
Johann Meinert, Soldat bei der Luftwaffe, desertiert Anfang 1945 und versteckt sich bei seiner Tante und seinem Onkel in einem Heuschuppen und wartet und hofft auf das Ende des Krieges. In Gedanken ist er stets bei seiner Frau Emmy, die mittlerweile ihr gemeinsames Kind auf die Welt gebracht haben sollte. Plötzlich steht Frieda, ein 17jähriges Mädchen aus der Nachbarschaft, im Heuschuppen. Wenn sie ihn verrät, ist es mit ihm vorbei.
Eine fast wahre Geschichte über den Grossvaters des Autors. Ein berührender Roman. Und doch hat er mich nicht genug eingenommen.
Sie schlenderte um die hufeisenförmige Sitzordnung herum, und als sie an Klapper vorbeikam, warf sie ihm einen prüfenden Blick zu, bevor sie die Atlanten anhob und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden abstellte, ihren Eastpak auf den Tisch legte und sich neben ihn setzte. Ein leises Raunen ging durch die Reihen. Klapper erstarrte. Das war alles viel zu sozial. (S.29)
Trauerkarten hatte er noch nie geschrieben. Das ist eine Verantwortung, die man in seinem Alter eigentlich nicht haben sollte. Sterben, das war eigentlich was für Erwachsene. (S.224)
Klapper ist 16. Er hat keine Freunde und verbrachte die gesamten Sommerferien alleine vor seinem PC. Am ersten Schultag nach den Ferien bekommt die Klasse Zuwachs von Bär, einem Mädchen, das gross und stark und selbstbewusst ist - und so das pure Gegenteil von Klapper darstellt. Sie behandelt ihn nicht als Aussenseiter, sondern setzt sich gleich neben ihn - da wissen beide noch nicht, dass sie beide eine Gemeinsamkeit haben: die Leidenschaft des Zockens. Ab da beginnt langsam eine Freundschaft zwischen ihnen.
Ein berührendes, lustiges wie auch trauriges Buch. Der Autor fängt die Zeit der Jugendlichen, der Suche nach sich selbst, der Überforderung des Erwachsenwerdens, die Probleme, mit denen sie konfrontiert werden, sehr schön auf, wie ich finde. Prödel gibt der Freundschaft zwischen Klapper und Bär die Zeit, die sie braucht, prescht nicht vor.
Monika gibt alles auf, als sie zu ihrem neuen, reichen Freund zieht: Erst ihre Wohnung, ihre Freundinnen, danach (auf sein Drängen) auch noch ihren Job. Bald darauf geht's zusammen in den Urlaub in seine Finca in Mallorca. Diese gefällt ihr so gut, dass er ihr vorschlägt, sie könne doch dort bleiben und er besuche sie jeweils an den Wochenenden. Klingt super! Bis er sie aus heiterem Himmel verlässt und sie die Finca auf Monatsende räumen muss. Das lässt sie nicht auf sich sitzen. Mithilfe ihrer neuen Freundinnen plant sie einen Rachezug gegen ihn...
Kurzweiliger Roman, sehr humorvoll (nur ist es nicht wirklich meiner...). Sehr klischierte Figuren und Begebenheiten. Leichte Kost, eignet sich sicher gut als Ferienlektüre.
Der Abschluss der Thriller-Trilogie rund um das Verschwinden der 19jährigen Lilli. In diesem Band werden alle Fäden zusammengefügt, alle Morde aufgeklärt, alle Geheimnisse enthüllt. Kriminalhauptkommissar Tom und Kryptologin Mascha geben nochmals alles. Bis zum Schluss voller Spannung, mir hat auch der dritte Teil gut gefallen, auch wenn sich leider noch der eine oder andere Kitsch eingeschlichen hat, der meiner Meinung nach gar nicht nötig gewesen wäre.
Die Trilogie baut aufeinander auf, also unbedingt der Reihe nach lesen!
Nach wie vor sehr angenehm gesprochen von Oliver Siebeck.
Und du sagtest traubig statt traurig, weil Tränen aussehen wie Trauben. Und ich wollte, dass du recht hast, solange es nur geht. Weil Tränen von Trauben abzuleiten vielleicht etwas abwendet. Weil traubig das bessere Wort ist. (S.7)
Unsere Küchen haben keine Abzüge. In unseren Fluren riecht es. Nach Armut, Majoran und Bockshornklee. Nach Reis und Schmortöpfen. Nach gebratenen Zwiebeln mit Kurkuma. Nach Kinderzimmern mit Etagenbetten und Arbeitslosigkeit. Nach Zimt, Sozialhilfe und Grossfamilien. Aber die Armut, die so riecht, kennt Dinge, die jenseits der Armut liegen, die gar keinen Geruch mehr hat. (S.88)
Alle sieben Jahre sind wir neu, sagt man. Alle Zellen erneuert. Aber die Narbenzelle erneuert sich wieder in eine Narbenzelle. Vererbt die Wunde. Vergisst nicht. Das Gedächtnis des Traumas liegt in der Wunde selbst. (S.175)
Die Eltern des Autors Behzad Karim Khani flüchten mit ihm in den 1990ern nach Deutschland, er kaum 10 Jahre. Er beschreibt das Aufwachsen in einer neuen Kultur, das Fremdsein, die Gewalt, in die er durch sein Umfeld hineingerät. Ein kraftvolles, voller Gewalt und dennoch sehr poetisches Buch. Khani findet immer wieder sehr schöne Sprachbilder.
Updatefreundschaften sind Freundschaften, das muss ich noch schnell sagen, bei denen man sich alle drei Monate auf einen Espresso trifft oder auf ein Bier, erzählt, was in den letzten drei Monaten passiert ist, eigentlich will man sich öfter sehen, aber das Leben, aber die Zeit, aber die Uni, aber die Krisen. (S.24)
Masha und Iggy. Zwei junge Erwachsene, die sich ineinander verlieben, aber nicht über Ihre Liebe sprechen können. Eine Liebesgeschichte, in der über alles geredet wird – ausser über den Beziehungsstatus, wie das SRF treffend beobachtete. In gewisser Weise ein Schelm:innen-Roman mit zwei Figuren, deren Unsicherheiten viel Raum einnehmen. Gerade dies macht sie sehr nahbar.
Die Geschichte folgt einem rasanten Tempo, ist originell, frisch, aber auch etwas zu bemüht, möglichst originell zu sein. So empfand ich es auf jeden Fall. Ich verlor schnell das Interesse an den beiden Figuren.
Fortsetzungsband von „Der Strand - Vermisst“. Kriminalhauptkommissar Tom und Kryptologin Mascha suchen mittlerweile nicht nur die immer noch vermisste Lilli von Band 1, mittlerweile ist auch ihr bester Freund Ben tot und eine Leiche einer jungen Frau wird am Strand angespült. Die Leiche ist nicht Lilli… Aber gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden jungen Frauen?
Auch den Band 2 fand ich spannend, die Figuren Tom und Mascha waren mir weiterhin sympathisch, der Plot schlüssig. Ansprechend gelesen von Oliver Siebeck. Bin nun gespannt auf den 3. und letzten Band.
Es empfiehlt sich, diese drei Bände der Reihe nach zu lesen, sie bauen aufeinander auf.
Die 19jährige (gehörlose) Lilli hatte mit ihrer Freundin Fabienne am Strand abgemacht, aber als Fabienne zehn Minuten zu spät eintraf, war von Lilli keine Spur. Sie ist verschwunden. Ihr Fahrrad wird in einem nahgelegenen Tümpel geborgen. Etwas später erhält Fabienne auf WhatsApp ein Bild von Lillis Account zugeschickt. Auf dem Bild: ein in den Sand gemalten Code mit Buchstaben und Sonderzeichen. Kriminalhauptkommissar Tom und Kryptologin Mascha versuchen, den Fall zu lösen und Lilli zu finden.
"Der Strand - Vermisst" ist Teil 1 einer Trilogie. Der erste Band endet ungelöst. Die Geschichte hat mich aber genug gepackt, um wissen zu wollen, wie es weiter geht. Angenehme Hauptprotagonist:innen, die mich interessierten, Nebencharakteren oft eher schwach gezeichnet. Ansprechend gelesen von Oliver Siebeck.
Gelungener Comic darüber, wie wir Menschen mit unserem Planeten und allem, was dazugehört, umgehen - und über die Konsequenzen unseres Umgangs. Nicht alle Strips fand ich gleichermassen lustig, aber im Grossen und Ganzen fand ich sie toll. Und das Thema wichtig.
Ein Buch, das eindrücklich veranschaulicht, was Helfer:innen auf einem Rettungsschiff auf dem Mittelmeer sehen und erleben. Das Buch zeigt das ganze Leid der Flüchtenden und die fehlende Hilfe, die von Europas Politik zu erwarten wäre. Der Autor und Zeichner Adrian Pourviseh war auf einem Rettungsschiff unterwegs, fotografierte, führte Interviews und half mit. Aus seinen Erlebnissen entstand dieser berührende, schonungslose Graphic Novel über ein sehr schwarzes und trauriges Kapitel der europäischen Geschichte.
Es hat mich beelendet, gleichermassen traurig und wütend gemacht. Schockierend, durch diesen Erfahrungsbericht hautnah miterleben zu können, was da eigentlich los ist auf dem Mittelmeer. Ein sehr wichtiges Buch zur Debatte um Asyl und den Umgang mit fliehenden Menschen!
Eine Reise ohne Beschwerlichkeiten ist gar keine. (S.25)
[...], und dann ist da plötzlich das Schwarze Meer. In mir sprüht eine Konfettikanone. (S.57)
Und das sind nur die Ländergrenzen. Was zwischen und an ihnen passiert, die Tönungen und Schattierungen, die Höhenunterschiede und Kontraste des Terrains, der gebauten Welt, der gesellschaftlichen Realitäten, der kulturellen Erzählungen - diese zuerst grob und nach und nach immer feiner nachzuzeichnen, damit sie in der Psychogeographie meiner inneren Landkarte lebendig werden: Darum setze ich mich in den Zug. (S.64)
Es ist der Schwellenschlaf, der im Nachtzug so viel Spass macht, diese besondere Art der bewussten Bewusstlosigkeit, die es nur hier gibt. Von der rauschenden Bewegung betäubt zu werden, in einen taumelnden Schlaf zu fallen, der sich aber als Schlaf wahrnimmt, der unentwegt dem Rattern der Räder auf den Schienen lauscht, die flüstern: Du schläfst und bist im Zug, ist das nicht irre schön? (S.67)
Manchmal sieht man sowieso nur die eigenen Gedanken, wenn man aus dem Zugfenster schaut, egal was dort draussen geboten wird. Kilometerlang das Gesicht dem Fenster zugewandt, aber in Wahrheit ist das Auge nach innen gekehrt, nach aussen blind. (S.81)
Das Buch ist eine Liebeserklärung an das Verreisen mit dem Zug. Die Autorin reist an jedes noch so weit entfernte Reiseziel mit dem Zug. Sie schreibt über all die Beschwerlichkeiten, aber noch viel mehr über all den Mehrwert, den eine Zugreise gegenüber einer Anreise mit dem Flugzeug hat. Mit ihren Geschichten macht sie richtig Lust auf eigene neue Reiseabenteuer mit dem Zug. Manchmal waren mir die Berichte aber dann doch etwas zu langfädig. Im Grossen und Ganzen aber eine Freude! :)
Eine bisher unbekannte, äusserst invasive Pflanze breitet sich auf der ganzen Welt plötzlich rasant aus. Die Pflanze ist aggressiv. Ihre Pollen, ihre Dornen, ihr Saft - alles an ihr ist hoch gefährlich, so dass sie weltweit Menschen krank macht und für viele Todesfälle sorgt. Ausbreiten konnte sie sich, da tausende Menschen weltweit anonyme Post mit Pflanzensamen erhalten - und bei sich zuhause eingepflanzt haben. Auch wenn die Behörden schnell reagieren und davor warnen, diese Samen einzupflanzen, ist es bereits zu spät. Die Pflanzen wuchern und kein Mittel scheint das Wachstum dieser zu stoppen. Der Botaniker und Autor Marcus Holland hört das erste Mal von dieser besorgniserregenden Pflanze an einer seiner Bücherlesungen. Die junge Frau, die ihn auf diese anbahnende Katastrophe anspricht, wird nach der Lesung vor seinen Augen verschossen. Er geht der Sache nach und bringt sich dabei selber in grosse Gefahr...
Fundiert recherchierter Wissenschafts- und What-If-Thriller. Mich hat die Geschichte von Anfang an gepackt und die Spannung hat bis zum Schluss angehalten. Viel gelernt über die Pflanzenwelt und sogar über Johann von Goethe! Nicht zuletzt regt die Geschichte sehr zum Nachdenken an. Kleiner Wehrmutstropfen: Der Schluss fand ich doch etwas zu theatralisch.
Nicht zuletzt ein toller Sprecher mit angenehmer Stimme und schauspielerischer Professionalität.
Kapitelman (in Kiew geboren, mit 8 Jahren nach Leipzig gekommen) beschreibt in seinem Roman, was der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mit ihm macht. Vor allem aber beschreibt er, wie sich der Krieg auf die Beziehung zu seiner Mutter auswirkt. Sie steht nämlich auf Putins Seite. Plötzlich ist die russische Sprache noch das scheinbar einzig Verbindende zwischen ihr und ihm. Kapitelman schafft es gut, diese Ambivalenz von der Liebe zu seiner Mutter und seiner Verzweiflung bzw. Unverständlichkeit, dass sie Putins Propaganda verfällt, darzustellen.
Trotz der Schwere des Themas ist das Buch sehr humorvoll geschrieben, was der Geschichte etwas Leichtigkeit verschafft und die Brutalität des Krieges erträglicher macht, ohne sie in Abrede zu stellen. Das Buch schafft einen persönlichen Einblick in den Alltag Einheimischer in einem Kriegsgebiet. Ich hätte mir von Seiten des Autors aber mehr Konfrontation/Auseinandersetzung gewünscht, mehr Gespräche mit seiner Mutter.