Die Wahrheiten meiner Mutter
400 Seiten

Johanna verlässt in jungen Jahren ihren Ehemann, Eltern und Heimatort, um in den USA eine Kunstausbildung zu machen und ihre neue Liebe zu heiraten. In der Beziehung zu ihren Eltern und Schwester löst dieser Wegzug einen ersten Bruch aus. Als sie nach dem Tod ihres Vaters nicht zur Beerdigung auftaucht, brechen ihre Mutter und Schwester den Kontakt ganz ab. Mit 60 Jahren kehrt Johanna in ihre Heimatstadt zurück. Sie sucht den Kontakt zu ihrer Mutter, die aber jegliche Kontaktaufnahme verweigert. Auch ihre Schwester gibt ihr klar zu verstehen, dass sie nicht erwünscht sei. Doch Johanna hat Fragen. In ihren aufkommenden Erinnerungen an ihre Kindheit entdeckt sie das eine oder andere, was ihr als Kind noch nicht aufgefallen war. Dinge, die ihre Mutter in ein anderes Licht rücken. Sie erzwingt den Kontakt mit ihr, auf der Suche nach Antworten.

Vigdis Hjorth schreibt sehr berührend und authentisch, ich fragte mich immer, ob es sich hier wohl um einen autofiktionalen Roman handele. Die Geschichte geht sehr tief und ist psychologisch sehr spannend (Mutter-Tochter-Beziehung). Ihre Sprache (bzw. die Sprache der Übersetzung) gefiel mir sehr. Zudem hat die Sprecherin es auch toll gelesen.

Kokainjahre
288 Seiten

Marina Jungs Sohn hat mit 22 Jahren zum ersten Mal Kokain konsumiert. Es folgen vier Jahre der Sucht. Mit 26 verliert ihr Sohn den Kampf gegen die Droge.

Die Autorin erzählt schonungslos vom vierjährigen Kampf gegen die Sucht, was diese mit ihrem Sohn und auch mit ihr und ihrem Mann als Eltern gemacht haben. Sie untermalt ihre persönlichen Erfahrungen mit fundierten Fakten und macht auch Verweise zu anderen Betroffenen.

Das Buch zeigt deutlich auf, mit wie vielen falschen Vorurteilen die Gesellschaft Suchterkrankten gegenübertreten, mit wie vielen Stigmatisierungen die Betroffenen sowie die Angehörigen zu kämpfen haben. Ich habe unglaublich viel gelernt über die zerstörerische Wirkung von Kokain und über den schwierigen Weg, aus einer Abhängigkeit wieder herauszukommen.

Die für mich wohl wichtigste Message aus diesem Buch:

Sucht hat nichts mit Willensschwäche zu tun, Sucht ist eine Krankheit. (S.17)

Sucht ist eine anerkannte Krankheit. Sucht als Willens- oder als Charakterschwäche zu qualifizieren ist nicht nur grundlegend falsch, sondern auch diskriminierend. (S.39)

Oder genauer:

So glauben viele Menschen nach wie vor, Sucht sei ein Zeichen Charakter- oder Willensschwäche. Manchmal wird sogar die Meinung vertreten, die von einer Konsumstörung betroffenen Personen hätten es nicht besser verdient, weil sie ihren Zustand letztendlich sich selbst zuzuschreiben hätten. Diese Annahmen sind grundlegend falsch, denn Substanzkonsumstörungen sind biopsychosozial herleitbare psychiatrische Erkrankungen, die meist chronisch verlaufen und eine hohe Morbidität und Mortalität aufweisen. (S.10)

Spannend fand ich zudem auch das:

Neurobiologisch wird eine ADHS oft mit einem Ungleichgewicht im Dopaminsystem erklärt. [...] Dopamin [ist] ein Neurotransmitter, der eine wichtige Rolle spielt bei der Regulation von Aufmerksamkeit, Motivation und Belohnung. Bei Menschen mit einer ADHS ist die Dopaminaktivität im Gehirn eingeschränkt, was unter anderem zu Unaufmerksamkeit und Impulsivität führen kann. Auf Basis dieser Dopmaindefizit-Hypothese haben Menschen mit einer ADHS ein deutlich erhöhtes Abhängigkeitsrisiko, weil sie empfänglich sind für die Wirkung von psychoaktiven Substanzen. [...] Es mag daher nicht erstaunen, dass bei Personen mit einer ADHS eine Kokainabhängigkeit vergleichsweise häufiger auftritt als bei Personen ohne ADHS. In Fachkreisen gilt eine konsequente ADHS-Behandlung bereits ab dem Kindes- und Jugendalter als eine der sinnvollsten Präventionsmassnahmen für Suchterkrankungen. Kinder mit einer ADHS haben ein doppelt so hohes Risiko für eine Kokainabhängigkeit als andere, unter anderem, weil sie unbekümmerter, neugieriger und begeisterungsfähiger unterwegs sind. (S.187)

Mich hinterlässt das Buch fassungslos zurück, es wird bei mir wohl noch lange nachhallen. Ich bin erschüttert über das, was die Autorin und vor allem ihr Sohn durchgemacht haben. Und ich bin unglaublich beeindruckt, dass Marina Jung diese vier Jahre nie aufgegeben hat, ihrem Sohn beizustehen und zu kämpfen für ein Leben ohne Drogen, auch wenn das unvorstellbar kräftezehrend gewesen sein musste - für alle. Grossen Respekt an sie, auch dafür, dass sie ihre ganzen Erfahrungen ungeschönt und absolut transparent in diesem Buch gesammelt hat, um anderen Suchterkrankten und Angehörigen von Suchterkrankten zu helfen.

Die Nulllinie
254 Seiten

<"Drug, wir brauchen solche Leute wie dich", sagte Schabla damals, und du wusstest, das sind keine leeren Komplimente, und du wusstest auch, es geht ihm nicht darum, dass du für den Kriegsdienst besonders geeignet wärst. Aber du kannst drei Sprachen, darunter Ukrainisch, du kannst einen Geländewagen steuern, sogar im Gelände, du weisst, wei ein Reduktionsgetriebe funktioniert und wozu man die Achsblockierung braucht, du kannst schiessen, obwohl diese Fähigkeit hier nicht so entscheidend ist, du bist körperlich einigermassen in Form, läufst immer noch zehn Kilometer in der Stunde und schaffst fünf Klimmzüge, bist entscheidungsstark, gerätst nicht in Panik, bist ein guter Organisator, mehr braucht man für so einen Krieg nicht. (S.94)

Das warst du und bist es weiterhin, der Mensch, den man nicht töten kann, weil er schon ohne Leben ist. [...] einer, der den Tod sucht und jetzt plötzlich festgestellt hat, dass er doch leben will, einer, der im Chaos der Welt wenigsten ein paar Spuren von Sinn finden wollte und mitten in der Brandung begann, die Sandkörner am Strand zu ordnen. (S.100)

"Warum hast du gesagt, wir leben nicht mehr?", fragst du Jagoda erneut. "So muss man denken", antwortet Jagoda. "Damit man vor Angst nicht durchdreht. Wenn du glaubst, du bist schon tot, hast du zwar weiter Angst, klar, Angst muss man haben, wer keine Angst hat, der ist verrückt, der zieht sich und den Kameraden Probleme auf den Hals. Am schlimmsten sind die, die keine Angst haben, Idioten. Aber wenn du glaubst, du könntest leben, wenn du glaubst, es gibt etwas nach dem Krieg, irgendeine Art von Leben, [...] dann kriegt die Angst dich zu packen; wenn du an eine Leben nach dem Krieg glaubst, willst du unbedingt bis dahin leben, du wirst schliesslich die Maschinenepistole auf Dauerfeuer stellen und sie dir unters Kinn setzen, denn wenn jemand das Kriegsende erleben will, dann wird der Krieg unerträglich, und besser nicht zu leben, als auf ein Leben nach dem Krieg zu warten." (S.129)

Die Hauptfiguer, der Soldat Kón, kommt aus einer ukrainisch-polnischen Familie, aufgewachsen in Polen. Als Freiwilliger ist er in den Krieg gezogen und harrt nun als Drohnenflieger nahe der Nulllinie aus. Es geht brutal zu und her, Twardoch beschönigt nichts. Die Sprache der Soldaten ist derb, die Hoffnung auf ein Überleben gleich Null.

Ein Buch, welches erschüttert und ein grausames Bild zeigt, was in der Ukraine gerade passiert. Ein Buch nahe der Soldaten. Die einzelnen Exkurse zu antiker Literatur hätten mich etwas durchatmen lassen, interessierten mich jetzt aber nicht so. Viele technische Ausführungen des Krieges verstand ich nicht.

Auf jeden Fall ein schwer verdauliches Buch, aber eines, das sich lohnt.

Butter
442 Seiten

Rika ist eine junge Journalistin. Sie recherchiert über Manako Kajii, eine verurteilte Serienmörderin, die alte ledige Männer erst verführt (sexuell und vor allem auch mit ihren Kochkünsten) und dann umgebracht haben. Sie gilt mit etwas mehr als 70Kg als fett. Ihre grosse Leidenschaft ist der kulinarische Genuss und vor allem Butter (Margarine verabscheut sie). Rika darf sie regelmässig im Gefängnis besuchen, aber nur, um über ihre Kochkünste zu reden. Rika hat bislang nie gekocht, ihre Neugierde ist jedoch geweckt und sie beginnt, den Kochempfehlungen der Serienmörderin zu folgen und tastet sich ans Kochen heran. Mit dem Kochen nimmt Rika zu, ursprünglich noch 49 Kg, ist sie nach wenigen Monaten 7 Kg schwerer. Das bleibt nicht unerkannt, dumme Sprüche und Ablehnung muss sie aushalten.

Im Buch geht es sehr viel um Kulinarik, aber auch um gesellschaftliche Erwartungshaltungen Frauen gegenüber. Es geht um die Emanzipierung und das Gegenhalten patriarchaler Strukturen. Stark japanisch geprägt, sowohl gesellschaftlich, als auch kulinarisch.

Eine sehr humoristische (gar satirische) und teilweise ziemlich absurde Geschichte, die einem immer wieder Lust aufs Essen machte. Wobei ich Butter ja gar nicht mag, und diese doch omnipräsent ist im Buch. :)

Ich fühlte mich durchgehend sehr unterhalten.

HEN NA E - Seltsame Bilder
268 Seiten

Ein junger Mann schreibt einen Blog über sich und seine schwangere Frau. Im zweitletzten Blogeintrag berichtet er über den Tod seiner Frau während der Geburt seines Kindes. Die Frau hinterlässt fünf Zeichnungen, die Fragen aufwerfen. -- Ein Kind malt im Kindergarten eine Zeichnung für seine Mutter, die auch Fragen aufwirft. -- Ein Zeichenlehrer wird auf einem Berg tot aufgefunden. Bei der Leiche liegt eine mysteriöse Zeichnung...

Der Krimi ist aufgebaut in 4 Kapiteln und einem Prolog. Jedes Kapitel beginnt mit neuen Personen und einer neuen Geschichte. Im Verlaufe der Kapitel wird aber klar, dass sie mit dem vorherigen Kapiteln jeweils in Verbindung stehen.

Der Autor arbeitet mit vielen Bildern und Visualisierungen. Er lässt die Leser:innen damit aktiv teilhaben am Mitraten. Er schreibt zudem vieles in dicker Schrift, damit die ganz wichtigen Infos bei den Leser:innen ja nicht untergehen. Daran habe ich mich etwas gestört, ich fand es bemutternd. Die Geschichte wirkt sehr konstruiert und die Handlungsstränge der Figuren waren für mich oft nicht nachvollziehbar.

Den Hype um dieses Buch verstehe ich nicht. Es war unterhaltsam und las sich schnell weg. Es unterscheidet sich von konventionellen Krimis, ja. Aber wirklich überzeugt hat es mich trotzdem nicht.

Fucking fucking schön
176 Seiten

10 verschiedene Geschichten erzählen differenziert über diverse erste Male: den ersten Kuss, das erste Masturbieren, den ersten Kontakt mit einem Porno, die ersten ungewollten Berührungen, den ersten Sex etc.

Die Autorin schafft es, sehr authentisch und auf Augenhöhe der Jugendlichen zu schreiben. Die Geschichten sind packend und lesen sich schnell. Ich hätte mir ein solches Buch gewünscht, als ich selbst ein Teenager war. Das hätte mir sicherlich bei vielen Unsicherheiten geholfen. Es ermutigt, den eigenen Gefühlen zu vertrauen.

Beautiful Days
240 Seiten

Im Buch sind zehn Kurzgeschichten enthalten, die alle mehr oder weniger unheimlich und verschroben sind oder so enden. Die Geschichten werfen Fragen auf, sind rätselhaft, absurd. Sie entgleisen und liessen mich meist sehr irritiert zurück. Nicht alle dieser zehn Geschichten haben mich gleichermassen gepackt. Auch hätte ich gerne die Rätsel, die Williams in seinen Geschichten eingebaut hat, aufgelöst bekommen.

Ein Vater bemerkt plötzlich, dass sein Junge an einem Fuss sechs Zehen hat und fragt sich, seit wann dies so ist. Ein Mann möchte eine humane Mäusefalle kaufen und kommt im Geschäft in eine absurde Situation. Ein Mann schaut im Nachbarhaus vorbei und entdeckt seine tote Nachbarin, aber auch gleichzeitig einen Mann, der sich im selben Zimmer aufhält und wortlos durch das Haus schleicht. Eine Familie zieht in ein Häuschen im Wald und ihr Kind bleibt in der Zeit stecken, es altert nicht. Und und und...

Der Titel "Beautiful Days" ist irreführend, weil von schönen Tagen ist in diesen Geschichten keine Spur. :)

»Mama, bitte lern Deutsch«
208 Seiten

Meine Mutter, die Poetin der Gerüstlandschaft, die mir die Welt mit Metaphern, Vergleichen und Symbolen erklärte, hatte sich im Supermarkt nicht wehren können. Und obwohl sie die Worte nicht verstanden hatte, war die Botschaft, war der Schmerz bei ihr angekommen. Manchmal, so denke ich heute, ist es egal, welche Sprache der Empfänger spricht, denn Schmerz folgt keiner Grammatik, Schmerz sprechen wir alle. (S. 64)

Ich war fünf Jahre alt, als ich meinen ersten Ablehnungsbescheid von der Ausländerbehörde erhielt. Ich war fünf Jahre alt, als mir auf einem Stück Papier mitgeteilt wurde: Du gehörst nicht in das Land, in dem du geboren wurdest. (S. 103)

Tahsim Durgun schreibt über seine Kindheit in einer kurdischen-jesidischen Familie in Oldenburg. Er schreibt über Alltagsrassismus, das Gefühl der Heimatlosigkeit, Integration. Und was es heisst, als Kind Verantwortung übernehmen zu müssen (offizielle Schreiben übersetzen, bei Behördengängen helfen und seine Mutter zu Arztbesuchen begleiten etc.). Mit viel Humor bildet Durgun die traurige Realität ab, wie schwer es Menschen mit Migrationshintergrund gemacht wird, wie belastend es vor allem auch für die Kinder migrantischer Familien sein kann, wie überfordernd. Nicht zuletzt ist das Buch aber auch eine Liebeserklärung an seine Mutter. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und wäre gerne weiter seinen Geschichten gefolgt. Es hat mich sehr berührt.

Santa Tereza
144 Seiten

Am liebsten sagte sie aber, dass er noch besser darin gewesen sei, Witze zu. machen. Und auch wenn ich nicht der war, der fand, dass alle in allem die Besten sein mussten, fand ich es schön, was sie über ihn sagte. (S.30)

Ich ging ins Haus, um mich umzuziehen, und dachte, dass ich mir selbst auch leidtun würde, wenn ich mich im Spiegel sähe. Weil es halt komisch ist, wenn man Badehosen von gestern anhat, während man selbst schon komplett so aussieht wie heute. (S. 110)

Luchs ist Mitte 30 und kognitiv leicht beeinträchtigt. Er ist ein Aussenseiter, ohne Ausbildung. Er arbeitet als Nachtwächter auf einem Friedhof. Eines Nachts lernt er die 13-jährige Teresa kennen. Nach einem holprigen Start freunden sie sich an. Und Teresa gibt ihm Selbstvertrauen, Neues zu lernen und seinem Traum, seine Geschichte zu schreiben, doch noch nachzugehen.

Flurin Jecker findet eine sehr einfache, authentische Sprache für seine Romanfigur. Luchs ist eine sehr liebenswürdige Figur, die Freundschaft mit Teresa sehr berührend. Eine schöne Geschichte, die zum Nachdenken anregt. Denn die kognitiv Nicht-Beeinträchtigten können eine Menge davon lernen. Im Moment zu leben und die kleinen Dinge zu geniessen, beispielsweise. Mir hat das Buch sehr gefallen.

Der Schwarm
987 Seiten

Wale, die plötzlich Menschen tödlich angreifen. Würmer, die den Meeresboden zum Einstürzen bringen, was wiederum schreckliche Tsunamis auslöst, die Millionen Menschen töten und ganze Städte zerstören. Infizierte Hummer, die die Leute krank machen. Eine Katastrophe jagt die nächste und die Welt steht vor einem Rätsel. Denn irgendwie scheinen alle Katastrophen zusammenzuhängen und es wird immer mehr. Wissenschaftler:innen kommen zusammen und versuchen, zu verstehen, was da passiert - und die Welt zu retten.

Ein Roman, der von Anfang an spannungsgeladen ist. Mich hat er sofort gepackt und ich fand die Thematik super interessant. Meerestiere, die sich gegen die Menschen auflehnen, ich musste sogleich an die Orcas denken, die seit wenigen Jahren Yachten angreifen. Mit der Zeit zeigt der Roman jedoch seine Längen und driftet meiner Meinung nach etwas zu sehr ab, ich war irgendwann dann auch nicht mehr zu hundert Prozent bei der Sache beim Zuhören. Auch dem Ende konnte ich nicht mehr viel abgewinnen. Nichtsdestotrotz finde ich das Buch sehr empfehlenswert. Aber die gekürzte Version hätte sicherlich auch gereicht. :)

Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft
208 Seiten

Als wir später nebeneinanderliegen und in diese viel zu heisse Sonne starren, reden wir miteinander. Über die Vögel und den Himmel und die Schule und die Eltern und so. Es ist alles recht grundlegend, wir tauschen einmal unsere Haltungen zur Welt und so aus und das, was man mit sechzehn halt so denkt, was wichtig sein könnte, wenn man anfängt, miteinander zu knutschen. (S.67)

Vielleicht bin ich auch sauer, aber habe keinen Kanal dafür. [...] Ich check die Angst, erwischt zu werden. Die Angst löst bei mir was Körperliches aus. Was ich schwerer benennen kann, ist das Wütendsein. Es hat keinen Ort in meinem Körper. (S.132)

Die Reduktion der Stadttaubenpopulation ist mal langfristig missglückt. Mir taten sie immer leid. Die Fäkalien der Taube, die immer ein bisschen zu flüssig sind, sind das Resultat einer chronischen Magen-Darm-Erkrankung, die andere Vögel, andere Tauben so nicht haben. Dieses Tier ist komplett auf die kapitalistischen Heilsversprechen reingefallen, ist in die Stadt gezogen, weil es da Arbeit gab, und dann kein Wohnraum mehr, schwupps, die Hand, die dich füttert, schiesst dich tot. (S.165)

Die 15jährige Era lebt mit ihrer Mutter in einem Tiny House am Waldrand. Die Klimakrise ist fortgeschritten, die Wälder brennen, die meisten Vögel sind bereits ausgestorben. Era dokumentiert das Aussterben der Vögel. Und sie lernt die beiden Schwestern Merle und Maja kennen, Töchter zweier Momfluencerinnen. Die Geschwister gehen jeden Samstag in den Wald und jagen Festplatten in die Luft. Sie möchten ihre Spuren, die ihre Mütter im Netz mit ihren Vlogs ungefragt hinterlassen haben, vernichten. Era beginnt, mitzumachen. Era und Maja verlieben sich ineinander. Als die jüngere Schwester irgendwann den Müttern beichtet, was sie jeweils im Wald zerstören, taucht Maja unter - und ermutigt Era, zu ihr zu kommen.

Die Autorin beschreibt ein dystopisches, aber realistisches Zukunftsszenario. Die Folgen der Klimaerwärmung werden nebenher deutlich aufgezeigt, ohne dass sie den Fokus darauf legt (hätte sie aber durchaus machen können). Sie schreibt in einer sehr jugendlichen Sprache, angepasst auf die Hauptfigur Era. Vögel sind ein wichtiges Thema und irgendwie auch der einzige rote Faden in diesem Buch. Die restliche Geschichte mit den Explosionen empfinde ich als zu gesucht und erschliesst sich mir nicht.

Ungebetene Gäste
315 Seiten

Wenn jemand um Verzeihung bittet, nimmt er dir das einzig Verbliebene - die Erlaubnis, wütend über sein Verhalten zu sein. (S.155-156)

Die Geschichte beginnt mit einem dramatischen Unfall. Naomi hat einen Arbeiter bei sich in der Whg. In einem unbeaufsichtigten Moment spielt Naomis Kind mit seinem Hammer und lässt ihn vom Balkon fallen. Ein Teenager verunglückt dabei tödlich. Der Arbeiter wird beschuldigt und Naomi, obwohl sie von seiner Unschuld weiss, schweigt. Die Schuldgefühle lässt sie nicht los, auch ein temporärer Umzug nach Nigeria hilft nicht.

Es geht um Schuld, Verantwortung, Moral, hartnäckige Vorurteile und Rassismus. Ein spannungsreicher, vielschichtiger Roman, der mir eigentlich sehr gefiel. Ich ertappte mich aber immer dabei, wie ich das Buch mit Gundar-Goshens Roman "Die Lügnerin" verglich, was diesem Buch nicht gut tat. Auch fand ich gewisse Sequenzen im Buch ein bisschen zu weit hergeholt bzw. gewisse Handlungen etwas unnatürlich. Ich befürchte, "Ungebetene Gäste" wird (bei mir) immer im Schatten von "Die Lügnerin" stehen und keine nachhaltigen Spuren hinterlassen. Ich hatte wohl leider einfach auch zu viele Erwartungen an Gundar-Goshens neuen Roman.

Russische Spezialitäten
192 Seiten

ich kann entweder fühlen, dass sie meine liebende Mutter ist. Oder daran denken, dass sie die russischen Mörder unterstützt. Beides gleichzeitig fühlen und denken kann ich nicht. (S.33)

Kapitelman (in Kiew geboren, mit 8 Jahren nach Leipzig gekommen) beschreibt in seinem Roman, was der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mit ihm macht. Vor allem aber beschreibt er, wie sich der Krieg auf die Beziehung zu seiner Mutter auswirkt. Sie steht nämlich auf Putins Seite. Plötzlich ist die russische Sprache noch das scheinbar einzig Verbindende zwischen ihr und ihm. Kapitelman schafft es gut, diese Ambivalenz von der Liebe zu seiner Mutter und seiner Verzweiflung bzw. Unverständlichkeit, dass sie Putins Propaganda verfällt, darzustellen.

Trotz der Schwere des Themas ist das Buch sehr humorvoll geschrieben, was der Geschichte etwas Leichtigkeit verschafft und die Brutalität des Krieges erträglicher macht, ohne sie in Abrede zu stellen. Das Buch schafft einen persönlichen Einblick in den Alltag Einheimischer in einem Kriegsgebiet. Ich hätte mir von Seiten des Autors aber mehr Konfrontation/Auseinandersetzung gewünscht, mehr Gespräche mit seiner Mutter.

Daily Soap
281 Seiten

Thor Obioye Osayoghoghowemwen fällt in die Kategorie "reife Kaffeekirsche, gepflückt in einem von lauwarmem Nieselregen geküssten Feld in Brasilien". Verantwortlich für die Einteilung von Schweizer Bürgern mit Hautfarben ausserhalb des eidgenössischen Hautfarbenspektrums ist das Bundesamt für die Rationalisierung Andersfarbiger anhand von Cappuccino beziehungsweise Kaffee, kurz BARACK - eines von acht Schweizer Verwaltungsdepartements. Sollte in der Schweiz a) jemand geboren werden oder b) jemand Asyl beantragen oder c) jemand mit Visum einreisen der nicht in das Spektrum zwischen "Leiche" und "Südländer" fällt, zückt ein BARACK-Beamter seinen Caran d'Ache und notiert die Auffälligkeiten der fraglichen Person. [...]. Erst dann werden die Erkenntnisse - gesammelt als Akte - in das Schweizerische Hautfarbenregister eingetragen, eine Datenbank, die sowohl analog als auch digital einsehbar ist. (S.10-11)

Während sich Herrn Banals Haaransatz immer mehr zurückzieht, wölbt sich sein Blähbauch immer weiter hervor, fast so, als würde ihn jemand aufblasen wie einen Luftballon. Doch für Ballone gibt es meistens einen fröhlichen Anlass, wovon in Herrn Banals Situation nicht die Rede sein kann. (S.128-129)

Eine Satire um zwei Schweizer Familien, aufgebaut wie eine Seifenoper. Es geht um Liebe, Sex, Affären - und Rassismus. Dazu Verschwörungstheorien, medizinische Sonderfälle und Mord.

Eine (Schweizer) Gesellschaftskritik, ganz schön provokativ und mit viel Humor. Eine erfrischende Lektüre, die ein ernstes Thema - den Rassismus - aufgreift. Die vielen Fussnoten sind einfach grandios!