Bücherregal lädt …
Weiter nach Osten
90 Seiten

Er muss sich in Geduld üben. [...] Geduld, Aljoscha, Geduld! Der junge Mann tritt an die Scheibe, sein Blick reicht über sein Spiegelbild hinaus: da draussen ist, kompakt und schattig, ozeanisch, der sibirische Wald, und in ihn vorzudringen wäre, wie mit Steinen in den Taschen ins schwarze Wasser einzutauchen, aber Aljoscha will leben. (S.27-28)

Hélène sucht ihre Sachen zusammen, Aljoscha trödelt, sie vermeiden, sich anzusehen, verlassen das Abteil, ohne einen Blick zurückzuwerfen, steigen aus der Transsibirischen aus, die Luft ist feucht, es ist mild, sie sind überrascht, stehen schwankend voreinander, wissen nicht mehr, was sie tun, was sie sich sagen oder geben sollen - als würde allein die Fortbewegung ihre Sprache aktivieren, als gäbe es ausserhalb des Zugs, ausserhalb der Flucht keine Geste, kein Lied mehr und alles müsste aufhören. (S.90)

Zwei Menschen begegnen sich in der Transsibirischen Eisenbahn. Da ist Aljoscha aus Moskau, der zwangsrekrutiert wurde und am Ende des Zuges in der dritten Klassen mit anderen Rekruten auf dem Weg nach Sibirien ist. Er möchte desertieren und bei jeder Haltestelle stellt er sich die Frage, ob und wie er flüchten kann. Und da ist Hélène, eine Französin, die mit ihrem Partner in Krasnojarsk war. Auch sie ist gewissermassen auf der Flucht. Während ihr Freund arbeitet, buchte sie kurzentschlossen ein Ticket nach Wladiwostok, hinterliess ihm keine Nachricht. Sie steigt in denselben Zug, wie Aljoscha schon Tage drin sitzt, doch in die erste Klasse am anderen Ende des Zuges. Und doch begegnen sie sich bald. Sie sprechen keine gemeinsame Sprache und doch versteht sie schnell seine eindringliche Bitte, ihm zu helfen. Sie nimmt ihn mit in ihr Abteil, versteckt ihn dort und wird zu seiner Komplizin.

Sehr poetisch, berührend und doch nicht kitschig, schreibt die Autorin über eine besondere Begegnung zweier verschiedenen Menschen, die beide vor etwas flüchten. Ich fühlte mich den Protagonist:innen von Anfang an sehr nahe. Selbst vor Jahren ein paar Mal mit der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs, wurde ich zurück katapultiert in meine eigenen Reiseerlebnisse. Die Autorin liess alle meine Erinnerungen wieder aufleben. Ich bangte ab der ersten Seite mit Aljoscha um seine Flucht. Ein tolles Buch, welches im Original übrigens bereits im 2012 erschienen ist.

& Du und ich und der Sommer
512 Seiten

Jura (16) und Wolodja (18) lernen sich 1986 in einem Sommer-Pionierlager in Charkiv, im ehemaligen Sowjetunion, kennen. Schnell freunden sie sich an und bald merken sie auch, dass sie mehr füreinander empfinden als nur Freundschaft. Im Geheimen nähern sie sich an, wohlwissend, dass ihre Liebe in der sowjetischen Gesellschaft nicht akzeptiert ist und es ihr Geheimnis bleiben muss. Nach diesem Sommer versprechen sie sich, den Kontakt zueinander nicht zu verlieren. Ein paar Jahre schreiben sie sich fleissig Briefe, doch dann verlieren sie sich dennoch aus den Augen. 20 Jahre nach ihrem gemeinsamen Sommer beschliesst Jura endlich, Wolodja wiederzufinden...

Mich hat die Geschichte sehr berührt. Da ich vor 25 Jahren selbst längere Zeit in Russland verbrachte, fand ich es sehr spannend, der Geschichte im geschichtlichen Kontext zu folgen, welche in der Sowjetunion begann, die Perestrojka und den Zerfall der Sowjetunion durchlebte. Besonders Wolodjas Hadern mit seiner Homosexualität, die vor allem der homofeindlichen Gesellschaft geschuldet war, hat mich sehr ergriffen. Ich bangte all die Seiten um die Liebe der beiden Männer und wünschte mir nichts mehr, als dass sie endlich wieder zueinanderfinden und ihre Liebe ausleben können. Dass dieses Buch in Russland verboten ist, überrascht mich zwar nicht, macht mich aber dennoch sehr traurig und wütend.

Gewisse Teile der Geschichte fand ich sehr langatmig, und zwar all die Theaterproben im Sommerlager, insbesondere die finale Theateraufführung. Da hätten ruhig ein paar Seiten zusammengekürzt werden können. Ich bin schon sehr gespannt auf den 2. Teil.

Untertauchen
256 Seiten

"Der Birkenwald lebt nicht mehr sein eigenes, in sich abgeschlossenes, geheimnisvolles Leben, das er nur mit dem Schnee, dem Wind, den Wolken teilt, sondern er existiert jetzt unseretwegen: um unsere Spuren im Schnee festzuhalten, sie mit Schnee zuzudecken oder mit Wasser zu füllen, um den Wind über unseren Köpfen dahinfegen zu lassen, um durch das Grau oder Blau des Himmels seine Augenfarbe zu verändern. Um uns vor der ganzen Welt abzuschirmen, damit wir einander ungestört zuhören können."

Ein Buch über eine Moskauer Autorin, die mehrere Wochen im Winter 1949 in einem Sanatorium für Künstler*innen verbringt. Die schwere Vergangenheit wird von allen verdrängt, doch sie will mehr über diese Vergangenheit, u.a. über ihren verschollenen Mann, erfahren. Sie lernt jemanden kennen, Bilibin, der im selben Arbeitslager war wie ihr Mann. Sie freunden sich an. Doch auch von ihm wird sie letztlich enttäuscht, da er - genau wie die anderen - auch nur vergessen will.

Eine sehr zarte Geschichte, still und doch sehr aufwühlend, poetisch und sehr naturbezogen.

Die Suche nach der letzten Zahl
348 Seiten

"Vom Verstand in Grenzen gehalten, wie von den Ufern das freie Wasser eines Flusses, träumt der Gedanke, ungehemmt hinzuströmen, sucht er sich loszureissen, strebt in die Freiheit... Doch nur eine grosse Wasserflut, eine Flut von Ideen kann den gewohnten Strom, den gewohnten Gedankenfluss, und dem Verstand bislang ungewohnte Wege öffnen..."

Der Norweger Amundsen sticht 1918 in See, um den Polarkreis (Nordpol) zu bezwingen. Vor der tschuktschischen Küste gefriert das Schiff im Eis ein. Er und seine Leute kommen in Kontakt mit Einheimischen, besonders mit Kagot, einem Schamanen, freundet sich Amundsen an. Kagot lernt Schreiben und rechnen und entwickelt eine Faszination besonders zu Zahlen: Er will die magische Zahl, die letzte Zahl, finden.

Ein sehr spannendes Buch, was viel über die Tschukschen Anfang des 20. Jahrhunderts erfahren lässt, über den Beginn von Lenins Herrschaft und den Bolschewismus. Sehr packend, interessant und letztlich auch sehr traurig, dass Kagot sein Ziel nicht erreichte.

Schuld und Sühne
961 Seiten

"...ich musste wissen, und zwar so rasch wie möglich, ob ich eine Laus bin wie alle anderen oder ein Mensch; ich musste wissen, ob ich jene Grenze überschreiten kann oder nicht, ob ich es wagen würde, mich zu bücken und die Macht zu packen; ob ich eine zitternde Kreatur bin oder ob ich das Recht habe..."

Der arme Student Raskolnikow begeht einen Doppelmord und beraubt das erste Opfer. Seine Meinung dahinter ist, dass es dem "grossen" Menschen erlaubt sei, "lebensunwertes" Leben zu vernichten. Das gestohlene Geld/Wertsachen kann er jedoch nicht verwenden, da er seine Tat letztlich doch nicht verkraftet. Er leidet, zerfällt an seinen Schuldfragen - und lernt nebenher eine Liebe kennen, die er erst spät zu akzeptieren lernt.

Eine sehr spannende und lesenswerte Lektüre.