Bücherregal lädt …
Moscow Mule
320 Seiten

Ich beschloss, so lange unglücklich zu bleiben, wie es nur ging, denn das Glück brachte nichts als Trägheit und Stillstand, oder vielleicht sogar - Gott bewahre - ein Haus. Das konnte ich mir nicht leisten. (S.10)

Moskau, 2006. Die Studentin Karina ist jung, mittellos und träumt davon, nach Europa auszuwandern. Gemeinsam mit Tonya, ihrer besten Freundin, die dieselben Träume teilt wie sie, schummelt sie sich durchs arme Leben in Moskau. Sie teilen sich betrunkene Männer, ihr letztes Kleingeld, legendäre Partynächte und Familienkonflikte. Als die Möglichkeit eines Stipendiums in Berlin aufploppt, gibt sie alles - und Tonya gibt ihr schmerzhaft zu verstehen, dass sie ihren Traum wohl grösser stellt als die Freundschaft zu ihr.

In der Protagonistin Karina steckt sehr viel vom Leben der Autorin drin, auch sie studierte in Moskau politischen Journalismus und wechselte dann zu einer Uni in Berlin, wo sie seither wohnt. Da ich selbst zwischen 2001 und 2007 oft in Russland war, war mir vieles nicht unbekannt, was sie über die russische Kultur und Eigenheiten preisgab. Genau das fand ich sehr spannend und sorgte bei mir für viele Erinnerungen. Ohne diesen Bezug hätte ich das Buch aber wohl kaum beendet. Mir gefiel ihre Sprache nicht, zu plump. Zwar witzig, aber nicht in meinem Geschmack.

1984
298 Seiten

There was of course no way of knowing whether you were being watched at any given moment. How often, or on what system, the Thought Police plugged in on any individual wire was guesswork. It was even conceivable that they watched everybody all the time. But at any rate they could plug in your wire whenever they wanted to. You had to live - did live, from habit that became instinct - in the assumption that every sound you made was overheard, and, except in darkness, every movement scrutinized. (S.4)

He was not certain that he would use the razor blade even if he got the chance. It was more natural to exist from moment to moment, accepting another ten minutes' life even with the certainty that there was torture at the end of it. (S.165)

Es ist das Jahr 1984. In der Welt bestimmt ein totalitärer Überwachungsstaat das Leben aller Menschen. Es ist eine Welt, in der "Big Brother" ständig zusieht und die Thought Police auch die privatesten Gedanken überwacht. "War is Peace", "Freedom is Slavery", "Ignorance is Strenght" sind die Slogans der Partei. Die Partei entwickelte eine neue Sprache ("Newspeak"), um durch die reduzierten Anzahl Wörter auch die rebellischen Gedanken zu eliminieren. Winston Smith arbeitet im Ministry of Truth. Seine Aufgabe besteht darin, historische Aufzeichnungen im Sinne der Partei umzuformulieren und die wahre Vergangenheit somit auszulöschen. Trauen kann er keiner Person, Winston lebt in ständiger Angst und Unruhe. Er hinterfragt die Realität, die die Partei vorgibt und verachtet das Regime. Als er sich in Julia verliebt, träumen sie vom Ende der Unterdrückung. Auch sie verachtet das Regime. Ihre Beziehung ist ein Akt der Rebellion. Sie werden verraten und kommen in Haft, wo sie gefoltert und manipuliert werden. Im berüchtigten Raum 101 werden sie mit ihren schlimmsten Ängsten konfrontiert - was dazu führt, dass er letztlich phsysisch und psychisch gebrochen wird.

Endlich habe ich mich dem Klassiker angenommen. Erschreckend, wie die Relevanz dieses Buches bis heute anhält. Besonders das Kapitel über die Newspeak fand ich sehr spannend. Mir gefiel es, dass sich Orwell die Zeit dafür nahm, seiner erfundenen Sprache im Buch so viel Raum zu geben. Das Kapitel, welches Einblick in "The book" gibt, fand ich hingegen etwas langatmig. An gewissen Stellen fragte ich mich, wie realistisch Winstons Handeln war (als Julia ihm den Zettel zusteckt, verfliegt bei ihm jegliches Misstrauen gegen sie, das er vorgängig noch hatte - zum Beispiel). Aber das sind Details. Beeindruckend fand ich, wie brutal sich das Ende liest, ohne dass das Foltern gross detailliert beschrieben wird. Ein Buch, das noch lange nachhallen wird.

Hey guten Morgen, wie geht es dir?
224 Seiten

Juno ist Künstlerin, mit Theater und Tanz verdient sie ihr Geld. Ihr Mann ist schwer pflegebedürftig. Tagsüber kümmert sie sich um ihn und geht zu ihren Proben. Nachts lenkt sie sich von ihrer Schlaflosigkeit ab und chattet im Internet mit Love-Scammern. Bei jeder neuen Chat-Anfrage erfindet sie neue Lügen, die sie den Männern erzählt und entlarvt ihre Maschen, bis sie sich schnell wieder verziehen. Benu aus Nigeria bleibt länger. Mit ihm beginnt sie nach und nach eine Freundschaft via Chat und Videocalls.

Mich machte der Plot neugierig. Er klang "neu". Beeindruckend, wie Juno trotz aller Sorgen (Geld, Pflege ihres Mannes, Älterwerden, Schlafproblemen) die Lebenskraft, die Liebe und Fürsorge zu ihrem Mann nicht verliert. Die Sprache teilweise schön poetisch, ergreifend. Mehr empfand ich dann aber doch nicht, nachhaltig berührt hat es mich nicht.

Das Hörbuch ist angenehm gelesen.

Zwischen zwei Leben
272 Seiten

Sie hatten darüber gesprochen, dass man noch immer nicht wusste, was die Hitzewallungen verursacht, ist das nicht seltsam, stell dir vor, der Mensch war auf dem Mond, und man kann sein Kind auf der anderen Seit der Erdkugel sprechen und dabei sehen, man kann jedoch nicht erklären, woher dieser Hitzeschwall kommt, warum sich die oberflächlichen Blutgefässe weiten, warum das Herz zu pochen beginnt, aber so ist es eben, und ist das natürlich, soll man das einfach ertragen, überlegt Jenny Hill in ihrem Bett. (S. 31-32)

Dornröschen: Ach Jenny, du kleine, widerstandsfähige Frau! Jede Nacht ist eine Zaubernacht, solange der Mensch auf Erden sein darf, aber das bedenkt und begreift niemand. Jeder Tag ist ein Wunder, jeder Atemzug, der Mensch an sich, das Leben! Jeder funkelt wie ein Stern am Himmel der Existenz und ist wichtig, einzigartig, ganz besonders, und verdient deshalb alle Liebe, Anerkennung und Wärme der Welt. [...] Du bist vollkommen, so wie du bist, einzigartig wie eine Schneeflocke, und wie du aus der Höhe zur Erde gleitest, ist ganz allein deine Sache. (S.92-93)

Rotkäppchen: Ich hasse es, dass man aus mir ein warnendes Beispiel gemacht hat. ich hasse es, dass Angstmache ein konventioneller Weg ist, um den äussersten Enden des Binärsystems toxische Cis-Privilegien zu vermitteln. Du musst gehorchen, sonst dringt ein fremder Mann in einem unbekannte Wald in deinen unschuldigen Schlüpfer ein. Sei nicht dumm, sonst wirst du vergewaltigt. (S.185)

Jenni Mäki ist Ende 40. Ihre beiden Kinder sind ausgeflogen. Sie trennt sich von ihrem Mann, bricht aus ihrem unglücklichen Leben aus und fängt mit einem neuen Namen, Jenny Hill, von vorne an. Ihre Therapeutin rät ihr, ihre Gedanken zu verschriftlichen, weil es ihr schwer fällt, über ihr Inneres zu sprechen. Sie beginnt, Briefe an Brigitte Macron zu schreiben (die sie natürlich nicht verschickt).

Begleitet wird Jenny von weiblichen Märchenfiguren, die ich als ihre inneren Stimmen verstand. Sie brechen mit den traditionellen Verhaltensmustern, die den Frauen über Jahrhunderte auferlegt wurden und kommunizieren mit Jenny, sprechen ihr gut zu, oder rügen sie auch.

Ich brauchte etwas Zeit, um in den Roman reinzukommen. Die Kapitel von den Märchenfiguren verwirrten mich zu Beginn stark und ich empfand die Kapitelwechsel als störend, aber schon bald begrüsste ich diese Perspektivenwechsel und ab da gefiel mir die Geschichte sehr. Besonders die Briefe an Brigitte Macron fand ich schön, die Entwicklung, die sich darin bei Jenny abzeichnete, wie sie zu Beginn kaum weiss, was sie schreiben soll und wie es ihr von Brief zu Brief immer leichter fällt, ihre Gedanken festzuhalten. Wie sie der Empfehlung der Theraupeut erst gar nicht traut und eher widerwillig damit beginnt, das Schreiben ihre Therapie aber schliesslich deutlich unterstützt. Ihren Weg zur Emanzipation ist von Kapitel zu Kapitel spürbar. Schön auch, wie das Hadern mit den Wechseljahren thematisiert wurde, gar nicht aber verteufelt wird. Ich mag Minna Rytisalos Sprache. Und ich mochte es sehr, wie auch dieser Roman (wie auch "Lempi") wieder aus drei Ebenen besteht (die Erzählweise von Jenny Hill, die Briefe an Macron, die inneren Stimmen der Märchenfiguren). Auch wenn es für mich zuerst eine Angewöhnung brauchte.

Emma
319 Seiten

Emma ist Ende 20 und lebt an der bretonischen Küste. Neun Jahre zuvor verlor sie durch einen tragischen Autounfall ihre Mutter. Sie selbst war damals am Steuer. Sie führt ein ruhiges Leben voller Schuldgefühle, stürzt sich in ihre Arbeit als Masseurin in einem angesagten Gesundheitszentrum. Nachdem der Sohn eines mächtigen Ministers aus dem Oman, Tariq, das Zentrum besucht und sich von ihr massieren lässt, offeriert er ihr eine viermonatige Stelle im Oman. Sie soll helfen, dort ein ähnliches Gesundheitszentrum aufzubauen und Einheimische Masseur:innen zu schulen. Emma und Tariq fühlen sich sofort zueinander hingezogen, beginnen eine Affäre. Doch plötzlich wird Emma von der Französischen Botschaft dazu gezwungen, für sie und gegen Tariq zu arbeiten. Der auferlegte Auftrag ist heikel und bringt Emma in tödliche Gefahr.

Als früheres Fangirl von Jean Reno konnte ich mir sein erstes Buch nicht entgehen lassen! Aber, ganz ehrlich, er gefällt mir (aktuell noch) besser als Schauspieler denn als Autor. Ich fand die Geschichte zwar schon unterhaltend, aber für einen Thriller war mir die Handlung dann doch etwas zu dünn. Dafür kamen erotische Szenen nicht zu kurz, was ja voll okay ist, aber ein spannungsgeladener Plot ist bei einem Thriller halt doch essentieller. Am spannendsten an der Geschichte fand ich, dass sie hauptsächlich im Oman spielte.

Halbinsel
224 Seiten

Inzwischen habe ich begriffen, es grenzt an ein Wunder, wenn man geliebte Menschen um sich hat und sie nicht zu früh verliert. Ein noch grösseres Wunder ist es, wenn es einem mehrmals im Leben gelingt, jemanden zu finden, der es gut mit einem meint. (S.50)

Mein Ärger würde uns beide nicht weiterbringen, aber ich hatte keine Lust mehr, mich zurückzuhalten. Ich wollte mich nicht länger so ratlos fühlen. Mir war klar, das dies ein denkbar ungünstiger Moment war, hier, in der Wohnung, in der wir jetzt einpacken sollten, statt zu streiten. Aber so ist es, beides ist gleichzeitig möglich, die Erkenntnis über das eigene destruktive Verhalten und die Tatsache, dass man es trotzdem weitertreibt. (S.98)

"Zum ersten Mal, zum allerersten Mal ist es so, dass ich nicht weiterkomme. Dass ich nicht zurechtkomme. Und du erträgst das nicht. Schon nach einer Woche hast du es kaum ausgehalten, das habe ich gespürt", sagte sie. "Mir ist klar, dass es so nicht bleiben kann, und natürlich frage ich mich, was mit mir los ist. Aber kannst du nicht ein wenig Vertrauen haben, dass ich das herausfinde? Dass ich mir in meinem eigenen Tempo selbst zu helfen weiss?" Sie klang so besonnen, so viel reflektierter als ich. "Lass mir diese Ruhe doch. Was sind schon einige Wochen, in denen alles etwas langsamer läuft? Zwei, drei Monate in einem ganzen Leben?" (S.100)

Annett ist Ende 40 und lebt seit vielen Jahren auf einer Halbinsel im nordfriesischen Wattenmeer an der Nordsee. Ihr Mann ist sehr früh und plötzlich gestorben, als ihre gemeinsame Tochter Linn gerade mal 5 Jahre alt war. Linn studierte Umwelttechnik, war als Umweltvolontärin in verschiedenen Wäldern Europas unterwegs und arbeitet für ein Aufforstungsprojekt. Sie hat beruflich vieles erreicht, Annett ist stolz auf sie. An einer Tagung, wo Linn einen Vortrag hält, bricht sie aus Erschöpfung zusammen. Annett nimmt sie zu sich auf die Halbinsel. Aus einer Woche werden mehrere Monate, Linn kündigt ihre Stelle und Wohnung und nimmt sich sehr viel Zeit, herauszufinden, was sie möchte. Annett ist zwar voller Sorge und ringt doch mit Linns Entscheid, sie will nur das Beste für sie, aber was ist das schon? Es entstehen Konflikte, Ungeduld zeigt sich, Unverständnis.

Mir hat das Buch und besonders dessen melancholische Melodie, die sich durch die gesamte Geschichte zieht, sehr gefallen. Es wird in der Ich-Perspektive von Annett in einer sehr ruhigen Stimme erzählt. Annett gibt im Laufe der Geschichte immer mehr Preis von ihrer Vergangenheit, vom Tod ihres Mannes, dem Weiterleben als Witwe und Alleinerziehende. Nicht jede Entscheidung, die Annett trifft, konnte ich nachvollziehen (beispielsweise der Besuch des Gemälderestaurators), aber das ist nur ein Detail.

Die Wahrheiten meiner Mutter
400 Seiten

Johanna verlässt in jungen Jahren ihren Ehemann, Eltern und Heimatort, um in den USA eine Kunstausbildung zu machen und ihre neue Liebe zu heiraten. In der Beziehung zu ihren Eltern und Schwester löst dieser Wegzug einen ersten Bruch aus. Als sie nach dem Tod ihres Vaters nicht zur Beerdigung auftaucht, brechen ihre Mutter und Schwester den Kontakt ganz ab. Mit 60 Jahren kehrt Johanna in ihre Heimatstadt zurück. Sie sucht den Kontakt zu ihrer Mutter, die aber jegliche Kontaktaufnahme verweigert. Auch ihre Schwester gibt ihr klar zu verstehen, dass sie nicht erwünscht sei. Doch Johanna hat Fragen. In ihren aufkommenden Erinnerungen an ihre Kindheit entdeckt sie das eine oder andere, was ihr als Kind noch nicht aufgefallen war. Dinge, die ihre Mutter in ein anderes Licht rücken. Sie erzwingt den Kontakt mit ihr, auf der Suche nach Antworten.

Vigdis Hjorth schreibt sehr berührend und authentisch, ich fragte mich immer, ob es sich hier wohl um einen autofiktionalen Roman handele. Die Geschichte geht sehr tief und ist psychologisch sehr spannend (Mutter-Tochter-Beziehung). Ihre Sprache (bzw. die Sprache der Übersetzung) gefiel mir sehr. Zudem hat die Sprecherin es auch toll gelesen.

Die Nulllinie
254 Seiten

<"Drug, wir brauchen solche Leute wie dich", sagte Schabla damals, und du wusstest, das sind keine leeren Komplimente, und du wusstest auch, es geht ihm nicht darum, dass du für den Kriegsdienst besonders geeignet wärst. Aber du kannst drei Sprachen, darunter Ukrainisch, du kannst einen Geländewagen steuern, sogar im Gelände, du weisst, wei ein Reduktionsgetriebe funktioniert und wozu man die Achsblockierung braucht, du kannst schiessen, obwohl diese Fähigkeit hier nicht so entscheidend ist, du bist körperlich einigermassen in Form, läufst immer noch zehn Kilometer in der Stunde und schaffst fünf Klimmzüge, bist entscheidungsstark, gerätst nicht in Panik, bist ein guter Organisator, mehr braucht man für so einen Krieg nicht. (S.94)

Das warst du und bist es weiterhin, der Mensch, den man nicht töten kann, weil er schon ohne Leben ist. [...] einer, der den Tod sucht und jetzt plötzlich festgestellt hat, dass er doch leben will, einer, der im Chaos der Welt wenigsten ein paar Spuren von Sinn finden wollte und mitten in der Brandung begann, die Sandkörner am Strand zu ordnen. (S.100)

"Warum hast du gesagt, wir leben nicht mehr?", fragst du Jagoda erneut. "So muss man denken", antwortet Jagoda. "Damit man vor Angst nicht durchdreht. Wenn du glaubst, du bist schon tot, hast du zwar weiter Angst, klar, Angst muss man haben, wer keine Angst hat, der ist verrückt, der zieht sich und den Kameraden Probleme auf den Hals. Am schlimmsten sind die, die keine Angst haben, Idioten. Aber wenn du glaubst, du könntest leben, wenn du glaubst, es gibt etwas nach dem Krieg, irgendeine Art von Leben, [...] dann kriegt die Angst dich zu packen; wenn du an eine Leben nach dem Krieg glaubst, willst du unbedingt bis dahin leben, du wirst schliesslich die Maschinenepistole auf Dauerfeuer stellen und sie dir unters Kinn setzen, denn wenn jemand das Kriegsende erleben will, dann wird der Krieg unerträglich, und besser nicht zu leben, als auf ein Leben nach dem Krieg zu warten." (S.129)

Die Hauptfiguer, der Soldat Kón, kommt aus einer ukrainisch-polnischen Familie, aufgewachsen in Polen. Als Freiwilliger ist er in den Krieg gezogen und harrt nun als Drohnenflieger nahe der Nulllinie aus. Es geht brutal zu und her, Twardoch beschönigt nichts. Die Sprache der Soldaten ist derb, die Hoffnung auf ein Überleben gleich Null.

Ein Buch, welches erschüttert und ein grausames Bild zeigt, was in der Ukraine gerade passiert. Ein Buch nahe der Soldaten. Die einzelnen Exkurse zu antiker Literatur hätten mich etwas durchatmen lassen, interessierten mich jetzt aber nicht so. Viele technische Ausführungen des Krieges verstand ich nicht.

Auf jeden Fall ein schwer verdauliches Buch, aber eines, das sich lohnt.

Butter
442 Seiten

Rika ist eine junge Journalistin. Sie recherchiert über Manako Kajii, eine verurteilte Serienmörderin, die alte ledige Männer erst verführt (sexuell und vor allem auch mit ihren Kochkünsten) und dann umgebracht haben. Sie gilt mit etwas mehr als 70Kg als fett. Ihre grosse Leidenschaft ist der kulinarische Genuss und vor allem Butter (Margarine verabscheut sie). Rika darf sie regelmässig im Gefängnis besuchen, aber nur, um über ihre Kochkünste zu reden. Rika hat bislang nie gekocht, ihre Neugierde ist jedoch geweckt und sie beginnt, den Kochempfehlungen der Serienmörderin zu folgen und tastet sich ans Kochen heran. Mit dem Kochen nimmt Rika zu, ursprünglich noch 49 Kg, ist sie nach wenigen Monaten 7 Kg schwerer. Das bleibt nicht unerkannt, dumme Sprüche und Ablehnung muss sie aushalten.

Im Buch geht es sehr viel um Kulinarik, aber auch um gesellschaftliche Erwartungshaltungen Frauen gegenüber. Es geht um die Emanzipierung und das Gegenhalten patriarchaler Strukturen. Stark japanisch geprägt, sowohl gesellschaftlich, als auch kulinarisch.

Eine sehr humoristische (gar satirische) und teilweise ziemlich absurde Geschichte, die einem immer wieder Lust aufs Essen machte. Wobei ich Butter ja gar nicht mag, und diese doch omnipräsent ist im Buch. :)

Ich fühlte mich durchgehend sehr unterhalten.

Fucking fucking schön
176 Seiten

10 verschiedene Geschichten erzählen differenziert über diverse erste Male: den ersten Kuss, das erste Masturbieren, den ersten Kontakt mit einem Porno, die ersten ungewollten Berührungen, den ersten Sex etc.

Die Autorin schafft es, sehr authentisch und auf Augenhöhe der Jugendlichen zu schreiben. Die Geschichten sind packend und lesen sich schnell. Ich hätte mir ein solches Buch gewünscht, als ich selbst ein Teenager war. Das hätte mir sicherlich bei vielen Unsicherheiten geholfen. Es ermutigt, den eigenen Gefühlen zu vertrauen.

Santa Tereza
144 Seiten

Am liebsten sagte sie aber, dass er noch besser darin gewesen sei, Witze zu. machen. Und auch wenn ich nicht der war, der fand, dass alle in allem die Besten sein mussten, fand ich es schön, was sie über ihn sagte. (S.30)

Ich ging ins Haus, um mich umzuziehen, und dachte, dass ich mir selbst auch leidtun würde, wenn ich mich im Spiegel sähe. Weil es halt komisch ist, wenn man Badehosen von gestern anhat, während man selbst schon komplett so aussieht wie heute. (S. 110)

Luchs ist Mitte 30 und kognitiv leicht beeinträchtigt. Er ist ein Aussenseiter, ohne Ausbildung. Er arbeitet als Nachtwächter auf einem Friedhof. Eines Nachts lernt er die 13-jährige Teresa kennen. Nach einem holprigen Start freunden sie sich an. Und Teresa gibt ihm Selbstvertrauen, Neues zu lernen und seinem Traum, seine Geschichte zu schreiben, doch noch nachzugehen.

Flurin Jecker findet eine sehr einfache, authentische Sprache für seine Romanfigur. Luchs ist eine sehr liebenswürdige Figur, die Freundschaft mit Teresa sehr berührend. Eine schöne Geschichte, die zum Nachdenken anregt. Denn die kognitiv Nicht-Beeinträchtigten können eine Menge davon lernen. Im Moment zu leben und die kleinen Dinge zu geniessen, beispielsweise. Mir hat das Buch sehr gefallen.

Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft
208 Seiten

Als wir später nebeneinanderliegen und in diese viel zu heisse Sonne starren, reden wir miteinander. Über die Vögel und den Himmel und die Schule und die Eltern und so. Es ist alles recht grundlegend, wir tauschen einmal unsere Haltungen zur Welt und so aus und das, was man mit sechzehn halt so denkt, was wichtig sein könnte, wenn man anfängt, miteinander zu knutschen. (S.67)

Vielleicht bin ich auch sauer, aber habe keinen Kanal dafür. [...] Ich check die Angst, erwischt zu werden. Die Angst löst bei mir was Körperliches aus. Was ich schwerer benennen kann, ist das Wütendsein. Es hat keinen Ort in meinem Körper. (S.132)

Die Reduktion der Stadttaubenpopulation ist mal langfristig missglückt. Mir taten sie immer leid. Die Fäkalien der Taube, die immer ein bisschen zu flüssig sind, sind das Resultat einer chronischen Magen-Darm-Erkrankung, die andere Vögel, andere Tauben so nicht haben. Dieses Tier ist komplett auf die kapitalistischen Heilsversprechen reingefallen, ist in die Stadt gezogen, weil es da Arbeit gab, und dann kein Wohnraum mehr, schwupps, die Hand, die dich füttert, schiesst dich tot. (S.165)

Die 15jährige Era lebt mit ihrer Mutter in einem Tiny House am Waldrand. Die Klimakrise ist fortgeschritten, die Wälder brennen, die meisten Vögel sind bereits ausgestorben. Era dokumentiert das Aussterben der Vögel. Und sie lernt die beiden Schwestern Merle und Maja kennen, Töchter zweier Momfluencerinnen. Die Geschwister gehen jeden Samstag in den Wald und jagen Festplatten in die Luft. Sie möchten ihre Spuren, die ihre Mütter im Netz mit ihren Vlogs ungefragt hinterlassen haben, vernichten. Era beginnt, mitzumachen. Era und Maja verlieben sich ineinander. Als die jüngere Schwester irgendwann den Müttern beichtet, was sie jeweils im Wald zerstören, taucht Maja unter - und ermutigt Era, zu ihr zu kommen.

Die Autorin beschreibt ein dystopisches, aber realistisches Zukunftsszenario. Die Folgen der Klimaerwärmung werden nebenher deutlich aufgezeigt, ohne dass sie den Fokus darauf legt (hätte sie aber durchaus machen können). Sie schreibt in einer sehr jugendlichen Sprache, angepasst auf die Hauptfigur Era. Vögel sind ein wichtiges Thema und irgendwie auch der einzige rote Faden in diesem Buch. Die restliche Geschichte mit den Explosionen empfinde ich als zu gesucht und erschliesst sich mir nicht.

Ungebetene Gäste
315 Seiten

Wenn jemand um Verzeihung bittet, nimmt er dir das einzig Verbliebene - die Erlaubnis, wütend über sein Verhalten zu sein. (S.155-156)

Die Geschichte beginnt mit einem dramatischen Unfall. Naomi hat einen Arbeiter bei sich in der Whg. In einem unbeaufsichtigten Moment spielt Naomis Kind mit seinem Hammer und lässt ihn vom Balkon fallen. Ein Teenager verunglückt dabei tödlich. Der Arbeiter wird beschuldigt und Naomi, obwohl sie von seiner Unschuld weiss, schweigt. Die Schuldgefühle lässt sie nicht los, auch ein temporärer Umzug nach Nigeria hilft nicht.

Es geht um Schuld, Verantwortung, Moral, hartnäckige Vorurteile und Rassismus. Ein spannungsreicher, vielschichtiger Roman, der mir eigentlich sehr gefiel. Ich ertappte mich aber immer dabei, wie ich das Buch mit Gundar-Goshens Roman "Die Lügnerin" verglich, was diesem Buch nicht gut tat. Auch fand ich gewisse Sequenzen im Buch ein bisschen zu weit hergeholt bzw. gewisse Handlungen etwas unnatürlich. Ich befürchte, "Ungebetene Gäste" wird (bei mir) immer im Schatten von "Die Lügnerin" stehen und keine nachhaltigen Spuren hinterlassen. Ich hatte wohl leider einfach auch zu viele Erwartungen an Gundar-Goshens neuen Roman.

Russische Spezialitäten
192 Seiten

ich kann entweder fühlen, dass sie meine liebende Mutter ist. Oder daran denken, dass sie die russischen Mörder unterstützt. Beides gleichzeitig fühlen und denken kann ich nicht. (S.33)

Kapitelman (in Kiew geboren, mit 8 Jahren nach Leipzig gekommen) beschreibt in seinem Roman, was der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mit ihm macht. Vor allem aber beschreibt er, wie sich der Krieg auf die Beziehung zu seiner Mutter auswirkt. Sie steht nämlich auf Putins Seite. Plötzlich ist die russische Sprache noch das scheinbar einzig Verbindende zwischen ihr und ihm. Kapitelman schafft es gut, diese Ambivalenz von der Liebe zu seiner Mutter und seiner Verzweiflung bzw. Unverständlichkeit, dass sie Putins Propaganda verfällt, darzustellen.

Trotz der Schwere des Themas ist das Buch sehr humorvoll geschrieben, was der Geschichte etwas Leichtigkeit verschafft und die Brutalität des Krieges erträglicher macht, ohne sie in Abrede zu stellen. Das Buch schafft einen persönlichen Einblick in den Alltag Einheimischer in einem Kriegsgebiet. Ich hätte mir von Seiten des Autors aber mehr Konfrontation/Auseinandersetzung gewünscht, mehr Gespräche mit seiner Mutter.

Daily Soap
281 Seiten

Thor Obioye Osayoghoghowemwen fällt in die Kategorie "reife Kaffeekirsche, gepflückt in einem von lauwarmem Nieselregen geküssten Feld in Brasilien". Verantwortlich für die Einteilung von Schweizer Bürgern mit Hautfarben ausserhalb des eidgenössischen Hautfarbenspektrums ist das Bundesamt für die Rationalisierung Andersfarbiger anhand von Cappuccino beziehungsweise Kaffee, kurz BARACK - eines von acht Schweizer Verwaltungsdepartements. Sollte in der Schweiz a) jemand geboren werden oder b) jemand Asyl beantragen oder c) jemand mit Visum einreisen der nicht in das Spektrum zwischen "Leiche" und "Südländer" fällt, zückt ein BARACK-Beamter seinen Caran d'Ache und notiert die Auffälligkeiten der fraglichen Person. [...]. Erst dann werden die Erkenntnisse - gesammelt als Akte - in das Schweizerische Hautfarbenregister eingetragen, eine Datenbank, die sowohl analog als auch digital einsehbar ist. (S.10-11)

Während sich Herrn Banals Haaransatz immer mehr zurückzieht, wölbt sich sein Blähbauch immer weiter hervor, fast so, als würde ihn jemand aufblasen wie einen Luftballon. Doch für Ballone gibt es meistens einen fröhlichen Anlass, wovon in Herrn Banals Situation nicht die Rede sein kann. (S.128-129)

Eine Satire um zwei Schweizer Familien, aufgebaut wie eine Seifenoper. Es geht um Liebe, Sex, Affären - und Rassismus. Dazu Verschwörungstheorien, medizinische Sonderfälle und Mord.

Eine (Schweizer) Gesellschaftskritik, ganz schön provokativ und mit viel Humor. Eine erfrischende Lektüre, die ein ernstes Thema - den Rassismus - aufgreift. Die vielen Fussnoten sind einfach grandios!