Findet mich
324 Seiten

Doris Wirths Roman Findet mich erzählt die Geschichte einer Familie, deren Vater, Erwin, in eine Psychose abgleitet, alles hinter sich lässt und in die Wälder flüchtet bzw. flüchten möchte. Damit führt er die Familie an den Rand des Zusammenbruchs. Erwins Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven und über mehrere Jahrzehnte hinweg erzählt: aus der Sicht Marias, Erwins Frau, sowie aus der Sicht von Florence und Lukas, den beiden Kindern. Dadurch wird eine detaillierte Familiengeschichte geschildert, die jedoch keine einfachen Erklärungen bietet. Stattdessen handelt es sich um eine vielschichtige Erzählung über familiäre Bindungen.

Besonders beschäftigt hat mich, dass Maria bis zuletzt bei Erwin bleibt. Auch wenn Erwin immer weiter abdriftet, steht das Bedürfnis nach Stabilität über allem. Der Familie gelingt es nicht, die Probleme anzugehen oder Veränderungen herbeizuführen. Florence fasst dies prägnant zusammen: „Heile Familie, nicht wahr?“

Findet mich wurde aus meiner Sicht völlig zu Recht für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert.

Das Institut
268 Seiten

2023 wurde Christian Haller mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. In seinem neuen Buch steht der junge Diplombiologe Thyl Osterholz im Zentrum, der sich in den 70er Jahren für ein Praktikum im “Institut für Soziales” bewirbt, wo er rasch Karriere macht. Bald wird ihm die Aufgabe übertragen, internationale Kongresse zu organisieren, die sich mit damalige sozialen und Umweltthemen beschäftigen, die Ölkrise ist ebenso ein Thema wie der Club of Rome. Thyl kommt in Kontakt mit wichtigen Persönlichkeiten (darunter auch reale Menschen wie Erich Fromm). Im Hintergrund tobt währenddessen im Institut ein Machtkampf, aus dem sich Thyl zunächst geschickt heraushält. Doch bald merkt er, dass auch er selbst zum Spielball dieser Auseinandersetzungen wird.

Haller arbeitete lange am Gottlieb-Duttweiler-Institut, und die Parallelen zu seiner eigenen Biografie sind unübersehbar. Die Geschichte enthält sicherlich auch eigene Erfahrungen, so hat Haller wie der Protagonist Thyl ebenfalls Biologie studiert hat.

Das Buch zeichnet ein Bild der 70er Jahre. Gekonnt schildert Haller den Büroalltag mit seinen bösartigen Machtkämpfen und beschreibt die Eitelkeiten und Intrigen detailreich und wenig schmeichelhaft. Die Führungsebene besteht aus lauter eitlen Menschen – ich vermisse jedoch wenigstens eine positive Figur.

Besonders gut gefallen hat mir die Liebesgeschichte zwischen Thyl und Isabelle, die sich im Laufe der Handlung entwickelt. Das Buch lässt sich insgesamt flüssig lesen.

Reise nach Laredo
272 Seiten

Im Zentrum des Buches steht Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, der Held des neuen Romans von Arno Geiger. Geiger erzählt von den letzten Tagen im Leben des Kaisers, der sich nach seiner Abdankung in das spanische Kloster San Jerónimo de Yuste in eine Villa zurückgezogen hat.

Karl V. geht es gesundheitlich sehr schlecht: Er leidet an Gicht und ist müde und erschöpft. Seine politischen Ämter hat er niedergelegt, und er weiss, dass er in Yuste sterben wird. Er isst und trinkt zu viel, beichtet und wartet auf das Ende. In seiner Villa hängt ein Wandteppich mit der Abbildung eines Fabelwesens, eines Greifs, der für ihn Freiheit und Unabhängigkeit symbolisiert. Eines Abends wirft Karl seine Aufzeichnungen für seine Lebensgeschichte ins Feuer. Er schliesst mit seiner Vergangenheit ab.

Ein Lichtblick in seinem Leben ist sein elfjähriger, illegitimer Sohn Geronimo, der nichts von seiner Herkunft weiss. Sie träumen davon, gemeinsam wegzulaufen, doch diese Sehnsucht bleibt unerfüllt.

Geiger lässt den Kaiser schliesslich träumen, und in diesem Traum begibt sich Karl mit Geronimo auf eine abenteuerliche Reise. Sie treffen auf ein junges Geschwisterpaar, das zu einer verfolgten Volksgruppe gehört. In einem Bergdorf verspielt Karl sein Geld, der Bruder des Geschwisterpaars stirbt, und auch ein gefangener Greif spielt eine symbolische Rolle. Über weite Strecken ist das Buch von einer tiefen Traurigkeit geprägt.

Das Buch endet mit der Ankunft am Meer, wo Karl mit seinem Sohn baden geht. Hier, in der Brandung, scheint Karl endlich frei und vielleicht sogar glücklich zu sein – befreit durch die Freundschaft zu Geronimo, der ihm nahe steht, ohne zu wissen, dass er sein Vater ist. Doch dann endet der Traum, und Karl stirbt.

Geiger erzählt eine recht wundersame und über weite Strecken traurige Geschichte über Tod und Sterben mit vielen Fabelwesen und Abenteuern. Das Buch erinnert mich an die Erzählungen der Romantik, wo Träume und fantastische Begebenheiten über die Grenzen des Realen hinausgehen.

Die Befreiung von der Last des Lebens kommt erst, als Karl nackt in der Meeresbrandung steht, entblösst von allen gesellschaftlichen Zwängen und als fehlerhafter Mensch akzeptiert wird. Doch dies bleibt nur ein Traum. Die Realität, die anschliessend geschildert wird, ist eine ganz andere.

Am Himmel die Flüsse
592 Seiten

Mit „Am Himmel die Flüsse“ legt Elif Shafak erneut einen lesenswerten Roman vor, der mich in jeder Hinsicht überzeugt hat.

Das verbindende Element der Erzählung ist das Wasser (Themse, Tigris, Wassertropfen), das die Lebenswege der drei Hauptfiguren miteinander verknüpft: ein Forscher des 19. Jahrhunderts, der die assyrische Keilschrift entschlüsselt, ein jesidisches Mädchen, das die Gräueltaten des IS überlebt, und eine moderne Hydrologin in London.

Der Roman bietet nicht nur eine spannende Lektüre, sondern vermittelt auch Einblicke in die Geschichte der Jesiden. Gleichzeitig regt er zum Nachdenken über die Welt, ihre Menschen und die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart an.

Mitte des Lebens
272 Seiten

Mit hat Barbara Bleischs Bild gefallen, wie sie das Leben wie eine Landkarte auffaltet und die Topographie studiert und weisse Flecken zu entdecken versucht. Den Anfang und Schluss des Buches habe ich mit Genuss gelesen. Dazwischen waren für mich, der ich wenig Praxis mit philosophischen Texten habe, die Erörterungen doch ein bisschen anstrengend. Und was bleibt? Offenheit und die Bereitschaft sich einzulassen.

Bannmeilen
301 Seiten

Unter dem Motto „Bereise nie ein Land ohne seine Bewohner“ durchstreift Anne Weber, beziehungsweise die Protagonistin des Buches, die Banlieues von Paris. Begleitet wird sie dabei von Thierry, dessen Vater Algerier ist und der in den Banlieues aufgewachsen ist. Inwieweit hinter Thierry der Fotograf Bruno Boudjelal steht, dem das Buch gewidmet ist, und inwieweit Anne Weber identisch ist mit der Protagonistin des Buchs, bleibt unklar. Das Buch liest sich jedoch eher wie eine Reiseerzählung und weniger als Roman, als das es offiziell bezeichnet wird.

Zitat: „Gehen, wo niemand geht. Wo niemand geht, weil nur Autos fahren, oder wo niemand geht, weil es nichts zu sehen und zu holen gibt. In verlorenen Ecken, an gehsteiglosen Schnellstrassen: Immer stossen wir auf Menschen, nie sind wir ganz allein. Die abgelegenen, vergessenen Ecken sind nur von uns vergessen, von anderen werden sie bewohnt.“

Thierry und die Ich-Erzählerin durchstreifen gemeinsam die Banlieues, die vordergründig nichts zu bieten haben ausser Schnellstrassen und Autobahnen, riesigen Wohnblocks, Lagerhallen und Supermärkten. Das Buch ist besonders aktuell, da es das Gebiet beschreibt, in dem die Olympischen Spiele stattfinden sollen.

Während Thierry für einen Dokumentarfilm über die Olympischen Spiele nach Drehorten sucht, macht die Ich-Erzählerin in seiner Begleitung Begegnungen, die ihre persönliche Sichtweise verändern. In einem kleinen Café, in dem ganz selbstverständlich (im Gegensatz zu anderen Cafés in dieser Gegend) auch Frauen verkehren, finden die beiden einen Ort der Ruhe und Erkenntnis. Das Café ist eine kleine Welt für sich.

Anne Weber eröffnet durch diese Begegnungen einen weiten Kosmos, in dem grundlegende Themen wie Reichtum, Armut, Krieg, Schuld sowie die Geschichte Frankreichs und insbesondere Frankreichs Beziehung zu Algerien eindrucksvoll geschildert werden. Das Buch ist ein eindrucksvolles Werk für alle, die sich für das andere Paris interessieren oder die gerade die Olympischen Spiele verfolgen.

Kairos
384 Seiten

"Kairos" von Jenny Erpenbeck erzählt die Geschichte der neunzehnjährigen Katharina und des Mitte fünfzigjährigen Hans, die sich Ende der achtziger Jahre in Ostberlin begegnen. Trotz der Unterschiede und Hindernisse, die zwischen ihnen stehen, können sie sich nicht voneinander lösen. Vor dem Hintergrund der untergehenden DDR und der Umbrüche nach 1989 wird die toxische Liebesbeziehung der beiden Hauptfiguren beschrieben.

Erpenbeck schafft es, die komplexen Gefühle von Glück, Obsession, Gewalt, Hass und Hoffnung meisterhaft zu schildern. Die Sprache ist dabei besonders beeindruckend.

Kit Armstrong
256 Seiten

Lesenswertes Buch über Kit Armstrong, ein Künstler und Wissenschaftler, der die Bereiche Musik und Naturwissenschaften meisterhaft miteinander verbindet. Als Wunderkind zeigte er außergewöhnliche Fähigkeiten und hat sich sowohl als Musiker als auch als Wissenschaftler kontinuierlich weiterentwickelt. Sein Interesse an künstlicher Intelligenz unterstreicht seine Vielseitigkeit und seinen Forschergeist. Trotz seiner aussergewöhnlichen Fähigkeiten ist Armstrong stets er selbst geblieben und seine Gedanken über Musik, Wissenschaften und über das Menschliche allgemein sind lesenswert. Ein Buch besonders für Menschen, die sich für Musik interessieren.

Der ehrliche Finder
128 Seiten

Jimmy ist ein Einzelkind, sein Vater hat Geld veruntreut und ist verschwunden. Als Klassenprimus hat er keine Freunde. Seine Freizeit verbringt er damit, Flippos zu sammeln, die in Chips-Packungen aus dem Supermarkt zu finden sind. Eines Tages kommt Tristan in seine Klasse, der mit seiner Familie aus dem Kosovo geflüchtet ist. Die beiden freunden sich an und unterstützen sich gegenseitig, auch wenn sie in völlig unterschiedlichen Welten leben, denn Tristan hat eine traumatische Flucht mit seiner Familie aus dem Kosovo hinter sich. Als nun die Familie einen Wegweisungsentscheid erhält, schmieden die beiden zusammen mit Tristans älterer Schwester einen gewagten und gefährlichen Plan, um die Wegweisung zu verhindern. In vielen Rezensionen wird das Tröstliche und Schöne der Freundschaft dieser Jungen betont. Für mich war es eher eine traurige Geschichte. Die beiden Lebenswelten der beiden Jungen sind zu unterschiedlich, als dass sie wirklich zusammenkommen und sich verstehen können (so habe ich auf jeden Fall die Geschichte gelesen). Trotzdem oder aber gerade deswegen ein lesenswertes Buch, das zum Denken und Diskutieren anregt.

Matrix
272 Seiten

Matrix von Lauren Groff hat mich sehr beeindruckt. Groff taucht tief in das mittelalterliche Leben ein, verleiht ihm durch ihren unverwechselbaren Stil eine "plastische Präsenz" und belebt die Geschichte Maries, einer unangepassten Heldin, die im Kloster ungeahnte Stärke findet. Die historische Genauigkeit und die sprachliche Brillanz machen das Buch zu einem beeindruckenden Leseerlebnis. Ein Roman, der nicht nur gefällt, sondern auch in Erinnerung bleibt und zum Nachdenken anregt.

Februar 33
288 Seiten

Mit “Februar 33” schreibt Uwe Wittstock eine Chronik der Ereignisse um Hitlers Machtergreifung aus Sicht von Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Hautnah schildert Wittstock aus der Perspektive von Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Else Lasker-Schüler, Alfred Döblin und vielen mehr, wie das kulturelle Leben der Weimarer Republik innerhalb weniger Wochen einem repressiven, brutalen Regime weicht. Um dem Tod zu ergehen bleibt nur noch die Flucht ins Ausland.