Das Buch hat eine Wucht und gleichzeitig kann ich gar nicht sagen, ob es mich nur umgerissen hat oder auch etwas mitgenommen hat. Teilweise sehr brutale Metaphern und auf der anderen Seite sehr interessante Beobachtungen.
Über etwas mehr als die Hälfte der Lesestrecke hinweg hat mich dieses Buch wirklich extrem angestrengt. Aber dann ist in mir ein Knoten geplatzt, was mich den zurückgelegten Weg noch einmal neu betrachten und den Rest der Strecke unter anderen Bedingungen angehen ließ.
Vor allem mit einem Gefühl der Ohnmacht hat mich dieser Stoff von diesem Punkt an konfrontiert. Eben weil das Buch und Kim de l’Horizon im Anschreiben gegen die Konventionen der Form offenbart, was eine binäre Welt mit Menschen machen kann, die sich nicht in dieses Muster pressen lassen. Ich kann das als weißer Hetero-Cis-Mann genau so schreiben und dann – wenn ich es den wollte – zu den Akten legen und mein Leben unbehelligt weiterleben. Menschen abseits der als Norm wahrgenommenen Binarität können das jedoch nicht. Vielleicht ist für viele von ihnen diese Ohnmacht ein noch einmal potenzierter Dauerzustand. Und diese Vorstellung allein hat etwas mit mir gemacht.
Außerdem war es für mich sehr faszinierend, wie sich das lyrische Ich durch den Akt des Schreibens eine Hülle erschafft, die der eigene Körper nie sein konnte oder es noch nicht ist.
Ein Buch in neuer Sprache und zeitweise unkonventioneller Form. Trotzdem liest es sich flüssig. Ein Selbstfindungstrip der schreibenden Person, spannend zu verfolgen. Teil 3 hatte seine Längen und Ausschweifungen, im Grossen und Ganze ein sehr gutes Buch.
"Das Schweigen, was Bravsein genannt wurde. Die Angst vor dem Unbekannten, was Fremdeln genannt wurde. Das Zurückhalten von Tränen, was Starksein genannt wurde. Die Angst vor dem Schlafengehen, die Angst, nie mehr aufzuwachen, und die Angst, im Dunkeln das Augenlicht zu verlieren, ohne es zu merken (denn mensch sieht ja nichts). Dies wurde mühsam genannt." (S.29)
Mitreissend, intensiv, provozierend, tief, verletzlich, zart, feinfühlig. Voller Liebe. Reich an Spiel mit der Sprache, erfrischend, oft auch anstrengend.
Viel gelernt, u.a. über nationalistische Wissenschaft zu Buchengewächsen. Kim de l'Horizon hat vollkommen zurecht den Buchpreis erhalten.
Nicht fertig geworden, da Leihe zu Ende. Fantastisches Buch. Like no other. Zurecht mit Preisen überhäuft. Die Dankesrede zum Deutschen Buchpreis 2022 gehört sowieso in jede Bookmark-Sammlung.