Während der "Mann oder Bär"-Debatte warst du tagelang wie an den Bildschirm geklebt. "Ein Bär würde mich einfach nur töten", haben die Frauen im Internet geschrieben, "er würde mich nicht in einen Keller sperren und jahrelang missbrauchen." [...] "Ein Bär würde mich einfach nur töten", haben sie geschrieben, "er würde mich nicht mit Rohypnol betäuben, vergewaltigen und dabei filmen, um später mit seinen Freunden über die Videos zu lachen." [...] "Wenn ich im Wald verschwinde, denkt niemand, dass es ein Bär war", haben die Frauen im Internet geschrieben. "Wenn ich von einem Bären verletzt werde, wird mir wenigstens geglaubt." Und: "Nach einem Bärenangriff fragt mich niemand, was ich anhatte." Bei Bären, die zu achtzig Prozent Vegetarier sind, besteht eine reelle Chance, dass sie ruhig ihrer Wege gehen. Bärinnen greifen nur an, um sich selbst und ihresgleichen zu beschützen. (S. 97-99)
In den Anhörungen haben die meisten der fünfzig Täter den Vorwurf der Vergewaltigung von sich gewiesen. Sie seien überzeugt gewesen, das Ganze gschehe mit Gisèle Pélicots Wissen, haben sie behauptet. Ein Sexspiel. Ein Fetisch des Ehepaars. Dabei erkennt man auf den Videos, wie tief Gisèle Pélicot schläft und dass das kein normaler Schlaf ist. Man hört sie sogar schnarchen. Wenn also Männer Videobeweise sehen, wie sie höchstpersönlich eine bewusstlose Frau vergewaltigen und sagen: Das ist keine Vergewaltigung, wie kriegt man dann Verständnis dafür, was einvernehmlicher Sex ist und was nicht, in ihre Schädel? (S.129)
Das mit dem Salz hat die Gabi über die Jahre perfektioniert. Sie gibt ein Priserl, auf keinen Fall zu viel, aber auch nicht zu wenig, in den Kaffee, grad so, dass er dem Typen nicht mehr schmeckt, er aber nicht nachvollziehen kann, warum. [...] Er soll das Unangenehme aushalten, sie tut es ja auch. Wenn eine Frau Männer datet, muss sie viel Unangenehmes aushalten. Der eigentliche Witz ist nämlich, dass die Männer den Kaffee trotzdem runterwürgen. So dringend wollen sie die Illusion aufrechterhalten, die sie sich zusammengezimmert haben - die befriedigte Frau, die sicher ein Wiedersehen möchte, die in Zukunft vielleicht für sie kocht und ihren Erzählungen über den cholerischen Chef und die anstrengende Mutter zuhört -, dass sie nicht sagen: Gabi, mit dem Kaffee stimmt was nicht. (S.152-153)
"Danke für den Kaffee", sagt Matthias und erlaubt sich den klassischen Blick auf die Uhr, "und für die schöne Nacht." Die Gabi nickt und zieht das mit dem Schweigen weiter durch. Sie hat keinen Bock, ein männliches Ego zu streicheln, noch bevor sie überhaupt geduscht hat. (S.156)
In den Kurzgeschichten, die auch sicherlich unabhängig voneinander zu lesen wären, aber trotzdem miteinander verbunden sind, geht es um Frauen, die genug haben und sich nichts mehr gefallen lassen. Von der Gesellschaft und ihrem Druck, die sie auf Frauen ausübt. Und vor allem von den Männern. Die Frauen sind wütend und haben genug. Sie rächen sich. Anna geht hochschwanger fremd, Simone fotografiert heimlich den schlaffen Penis ihres schlafenden Mannes, Gabi rührt ihren One-Night-Stands morgens Salz in den Kaffee. Moni rächt sich stellvertretend an fremden Männern, den grauenvollen Fall von Giséle Pélicot vor Augen.
Die Geschichten sind böse, provokativ, kompromisslos und oft sehr sehr lustig. Nicht alle haben mir gleich gut gefallen, aber das ist egal. Es fühlt sich befreiend an, den Handlungen der Frauen zu folgen. Vieles mag pauschalisierend daherkommen und Männer kommen in diesem Buch nicht gut weg. Aber natürlich sind die Geschichten mit einem Augenzwinkern zu lesen, sie sollen provozieren und doch steckt auch so viel Wahres in ihnen. Vieles davon ist aber auch einfach nur erschütternd (ich sage nur: Giséle Pélicot, als ein Beispiel).
Melara Mvogdobo schreibt über zwei Grossmütter aus zwei verschiedenen Kontinenten. Die eine wuchs in einer armen Schweizer Bauernfamilie auf, die andere in einer wohlhabenden Familie in Kamerun. Ihr Leben könnte nicht unterschiedlicher sein und doch machen sie beide ähnliche Erfahrungen. Beide leiden unter den patriarchalen Strukturen, beide werden zu einer Hochzeit gedrängt, beide werden gedemütigt, entwürdigt, geschlagen. Beide sind wütend und beide haben irgendwann genug. Melara Mvogdobo nimmt uns mit in ihre Kindheit und bis ans Sterbebett im hohen Alter.
Wow, was für eine Kraft dieses kleine Büchlein hat! Mvogdobos Schreibstil ist sehr reduziert, aber damit umso wuchtiger. Kein Wort zuviel, jedes Wort sitzt. Die teilweise sehr kurzen Kapitel wechseln sich ab, die Kapitel aus Kamerun sind in einem Bordeauxrot geschrieben, die Kapitel aus der Schweiz in Schwarz. Die beiden Geschichten zu lesen haben in mir eine grosse Wut aufbrodeln lassen. Wut auf das Patriarchat, auf die Gewalt, die beiden Frauen widerfahren ist - und die leider keine Seltenheit ist, auch heute noch. Die Geschichten haben mich aber auch in meinen feministischen Gedanken gestärkt. Eine dünnes Buch, das es ist in sich hat und mich sehr ergriffen hat, inklusive vergossener Tränen. Sehr zu empfehlen! Das Buch war auf der Shortlist für den CH-Buchpreis 2025.