Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
160 Seiten

"Erst als ich nach dem Abitur das Dorf verlassen hatte und in die Stadt gezogen war, hatte ich gelernt, wie weit die Welt war und wie unsicher. Vielleicht hatte ich deshalb zu schreiben begonnen, um die Landschaft, die Sicherheit meiner Kindheit wiederzugewinnen, aus der ich mich selbst vertrieben hatte." (S.19)

"Ich habe keine Angst vor Ihnen, sagte sie. Erst will ich das Ende der Geschichte hören. Das Ende der Geschichte kann ich Ihnen nicht erzählen, sagte ich, ein Ende haben Geschichten nur in Büchern. Aber ich kann Ihnen erzählen, was weiter geschah." (S.38)

"Aber trotz der Fotos und der Plüschtiere wirkten die Räume unbelebt, als seien sie seit Monaten von keinem Menschen betreten worden. Vielleicht fühlte ich mich gerade deshalb wohl darin, auch mein Leben war ein leerer Raum, in dem nur die Schatten an den Wänden verrieten, dass er einmal bewohnt gewesen war." (S. 106)

Christoph begegnet der jungen Lena und erzählt ihr die Geschichte von seiner Liebe zu einer Magdalena, die 16 Jahre her ist. Er erzählt von Magdalena, die Lena sehr gleicht, Lena ist. Er erzählt von Lenas Leben. Wirklichkeit und Fantasie scheinen sich zu vermischen. Kann das Schicksal manipuliert werden?

Ich mag Stamms ruhige, feine Schreibweise. Über alle Seiten hinweg schwebt eine sanfte Melancholie.

Sturz in die Sonne
200 Seiten

"Alles Leben wird enden. Es wird immer heisser werden. Die Hitze wird unerträglich sein für alles Lebende. Es wird immer heisser werden, und schnell wird alles sterben. Und trotzdem, noch sieht man nichts. Noch hört man nichts: Sogar die Botschaft selber ist verstummt. Was zu sagen war, ist gesagt; Stille." (S. 6)

Das Buch, geschrieben 1922, stützt sich auf den Hitzesommer von 1921, als die Temperaturen in Genf auf 38.3 Grad stiegen. Anders als in unserer heutigen Situation, ist die Ausgangslage der steigenden Hitze aber eine andere: Aufgrund eines Gravitationsfehlers stürzt die Erde der Sonne entgegen. Anders als heute trägt die Menschheit keine Schuld. Im Buch geht es darum, wie die verschiedenen Personen mit dieser Situation umgehen und wie sich der Blick auf die Welt, auf das Leben ändert.

Eine spannende Geschichte, herausfordernd zu lesen. Die einzelnen Kapitel stehen für sich, sind eigene Geschichten, die Sprache war für mich teilweise sehr anspruchsvoll, der Wechsel von einem zum anderen Kapitel zu sprunghaft. Ich konnte nicht immer folgen (war aber ehrlicherweise auch nicht immer bei der Sache...).

Knochenlieder
301 Seiten

"Die Decke dämpft Körperschichten,

Da liegen Baumwolle

über Daunenfedern

über Baumwolle

über nackter Haut.

Darunter die Seele im Schlummer." (S.180)

Eine Familiengeschichte über drei Generationen. Die Geschichte erzählt, wie die Frauen dieser Familie die Herausforderungen der dystopischen Verhältnisse ihres Alltags (Bürgerkrieg, Unruhen) angehen bzw. überstehen.

Das Buch zeigt ein sehr ungewöhnliches "Schriftbild" für einen Roman, die Sprache ist äusserst poetisch. Ich fand sie zu Beginn gewöhnungsbedürftig, fand mich dann aber doch relativ schnell zurecht in diesen speziellen Rhythmus. Auf die Länge überzeugte mich ihr Stil aber trotzdem nicht, er lenkte mich zu fest von der Geschichte ab.

Nino
190 Seiten

"Er wirkt, als habe er sich seine Coolness vor Jahren mal angezogen und nie gemerkt, dass sie ihm längst zu klein geworden ist." (S. 74)

Ein, wie ich finde, gelungener Debütroman mit einer interessanten Erzählperspektive. Unterhaltend, modern, frisch.

Eine Frage der Zeit
125 Seiten

"Was ist Glück? Ein Zustand? Eine Masseinheit? Ein Begriff, den jeder für sich selber definieren muss? Kann man Glück anstreben und erreichen, oder geschieht Glück nach dem Zufallsprinzip? Wenn sich Glück häuft, wird daraus Zufriedenheit?" (S.65)

"Angenommen, wir könnten jetzt zusammen an einem Tisch beim Mittagessen sitzen und reden: Was würdest du mich fragen?" (S.125)

Yvonne Eisenring war 14 Jahre alt, als ihr Vater plötzlich starb. Sie hatte viele Fragen, die sie nicht beantworten konnte und die niemand beantworten wollte. Ein Jahr später begann sie, diese Fragen in einem Notizheft zu sammeln. Es sind Fragen über das Leben, über den Tod. Es sind Fragen, die auch die Leser:innen zum Nachdenken anregen. Ein sehr persönliches, intimes Buch über den Verlust eines geliebten Menschen.

Das Buch ist mit Illustrationen von Nicole Kim ergänzt.

Lieblingstochter
221 Seiten

"Marine hat nie hinter diesen verschlossenen Türen gelebt, sie durchschaut die Anzeichen nicht. Ich kenne die Tricks, mit denen man die Worte und Gesten vorsichtig verpacken muss. Es ist wie bei einem brodelnden Vulkan, Lava wird austreten, man weiss nicht genau wann, aber früher oder später wird das Magma überquellen, die Gedanken, jede Rationalität mit sich fortreissen, bis nur noch blanke Angst zurückbleibt." (S. 114)

Jeanne wächst mit ihrer Schwester und Eltern in einem Walliser Bergdorf auf. Der Vater gewalttätig gegen Frau und Kinder, die Mutter und Kinder verängstigt, eingeschüchtert. Das Dorf weiss, was in dieser Familie passiert, doch alle schauen weg. Ihre traumatischen Erlebnisse nimmt sie ins Erwachsenenalter mit, ihr Trauma bestimmt ihr Leben, sie kämpft dagegen an, versucht, sich von ihren schmerzvollen Erinnerungen zu lösen, sich von ihrem Vater zu distanzieren.

Das Buch ist zornig, roh, ungeschönt und heftig. Es erschütterte mich, ging mir nahe, machte mich wütend und betroffen.

Trennt Euch!
120 Seiten

"Und wenn Ihre Beziehung Ihnen Kummer bereitet, so ist das kein unabänderliches Detail, mit dem Sie sich eben zu arrangieren haben, und schon gar keine spirituelle Duldsamkeitsübung, die Sie irgendwann ins Paradies emporheben wird, sondern ein ernsthaftes Problem. Denn für jeden Tag, an dem Sie es aufgrund diffuser Pflichtgefühle zulassen, nicht glücklich zu sein, geben Sie ein Stück Ihrer Würde und Selbstachtung her. Und dieser Preis ist zu hoch; was auch immer Sie dafür erhalten oder zu erhalten glauben." (S.30)

"Wenn die Lehre, die wir aus einer leidvollen Erfahrung ziehen, einzig besagt, dass weitere solche Erfahrungen erforderlich seien, um endlich Glück zu erlangen, unterliegen wir einem grundlegenden Missverständnis. Leid ist nicht der Preis für Glück und verwandelt sich auch nicht plötzlich in dieses. Wieso sollte es auch? Leid ist lediglich die Summe wiederholter schlechter Entscheidungen; und mit jemandem zusammenzubleiben, der Ihnen nicht guttut, weil er nicht zu Ihnen passt, ist genau dies: ein täglich repetierter Fehler." (S.46)

"Einen guten Moment für die Trennung gibt es nicht. Aber vielleicht die richtigen Worte: 'Unsere Beziehung tut mir nicht gut, darum beende ich sie.' Mehr gibt es nicht zu sagen, denn um etwas anderes geht es nicht." (S.87)

Es gibt unzählige Ratgeber, die einem Tipps geben zur Erhaltung einer schwierigen Beziehung. Meyer sieht das anders. Zu viele Paare seien unglücklich und sollten sich besser trennen. Das Leben sei zu kurz fürs Unglücklichsein. Manchmal sind seine Ansichten meines Erachtens ein bisschen zu einfach gestrickt, oft sind seine Worte sehr provokativ gewählt. In vielem teile ich aber seine Meinung.

& Hast du Nein gesagt?
174 Seiten

"Mein Leben war bereits vor seiner Tat kein einfaches. Wegen all der Dinge, die mir früher schon angetan wurden. Arvins Anwältin hat vor Gericht übrigens fein säuberlich ausgebreitet, dass ich schon als Kind missbraucht wurde, und fragte sich, ob ich vielleicht deshalb sensibler als andere auf solche Übergriffe reagieren würde und sie nicht richtig einordnen könnte. Das muss man sich einmal vorstellen." (S. 36)

"Ich begriff aber auch: 'Nein heisst Nein' hilft dir wenig, wenn du in dem Moment, in dem der Übergriff passiert, kein Wort herausbringst." (S.93)

"Hochgerechnet haben in der Schweiz bereits 430'000 Frauen mindestens einmal in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erfahren. Nur rund acht Prozent der Fälle werden angezeigt, die Verurteilungen der Täterschaft liegt im einstelligen Prozentbereich. Nichtsdestotrotz bedeutet dies, dass hinter diesen 430'000 Übergriffen auch Täter stehen. Wenn jede und jeder von uns ein Vergewaltigungsopfer kennt, wie viele Täter kennen wir?" (S.140)

"Das Gesetz muss anerkennen, dass wir das Recht auf unseren Körper nicht vor Übergriffen verteidigen müssen. Sondern dass uns das Recht auf unseren Körper zusteht - einfach so." (S.143)

"Unser Körper ist kein Selbstbedienungsladen, in dem man sich bedienen kann, bis wir uns wehren oder Nein sagen." (S.144)

Die Journalistinnen Miriam Suter und Natalia Widla behandeln das Sexualstrafgesetz in der Schweiz und schauen sich die Praxis unserer Polizei, die Beratungsstellen und das Recht an. Drei Frauen teilen des Weiteren im Buch ihre Erlebnisse von sexualisierter Gewalt und zeigen auf, welchen Hürden Betroffene ausgesetzt sind. Die Autorinnen führten zudem Interviews mit Politikerinnen, Opferberatungsexpertinnen, Polizist:innen, Polizeischuldirektoren.

Das Buch zeigt auf, welche Veränderungen es in der Schweiz braucht, im Strafrecht, aber auch institutionell.

Das Buch macht wütend, es schockiert, es macht betroffen und traurig. Aber es macht auch Hoffnung, denn, wie es scheint, kommt, was das Sexualstrafrecht anbelangt, endlich etwas in Gang.

Fädlikinder
75 Seiten

Ein Einblick in die blühenden Jahre der Schweizer Textilindustrie und das dunkle Kapitel der Kinderarbeit in den Spinnereien.

Die Recherchen der Autorin werden begleitet von Textausschnitten des Buches «Anneli kämpft um Sonne und Freiheit» von Olga Meyer aus dem Jahr 1927 sowie Schabzeichnungen von Rahel Henn.

Ein kurzes, leicht und schnell zu lesendes Buch, welches sehr anschaulich aufzeigt, wie Kinder im 19. Jahrhundert um ihre Kindheit (und Gesundheit) betrogen wurden, indem sie sich durch 15-stündige Arbeitstage kämpfen mussten. Leider stammen viele Quellennachweise aus Wikipedia, was die Qualität des Buches mindert.

Dürrst
266 Seiten

"Man fällt in ein Loch oder die Decke einem auf den Kopf, sagt der Volksmund. Aber es ist ein Hund, ein schwarzer. Er lief dir schon in der Kindheit zu. Wenn er kommt, ist es Zeit, dich ins Bett zu legen und zu warten, denn er lässt sich nicht aufscheuchen, wegjagen, verbannen. Du nimmst an, der Hund hat mehrere Meister, da er genauso plötzlich verschwindet, wie er auftaucht. Aber wenn er kommt, bleibt er meistens lange. Das Einzige, was du an ihm magst - dass du ihn kennst. Und vielleicht, wie sein Fell riecht, an besseren Tagen." (S. 58)

Der Konzeptkünstler Dürrst leidet an einer Bipolaren Affektstörung. Sein Leiden, seine Suche nach Liebe und Anerkennung, die grosse Erschöpfung, sein Kampf im Leben werden ungeschönt erzählt. Ein schweres, heftiges und wichtiges Buch, das unter die Haut geht und offen über die leider noch immer sehr tabuisierten psychischen Krankheiten spricht.

Die Geschichte wird in der zweiten Person erzählt, was ich sehr schön fand, es schaffte etwas Distanz, ohne unpersönlich zu werden. Sehr schöne Sprache.

Rosa Buch
240 Seiten

"Oft habe ich es auch mit Menschen zu tun, die nicht einverstanden sind mit gleichgeschlechtlicher Liebe. Was unfreiwillig lustig ist: Wie kann man nicht einverstanden sein mit etwas, das existiert? Das ist, als wäre man nicht einverstanden mit Zucchetti oder Abendsonne oder Ellbogen. Das sind keine Erfindungen, sie existieren einfach." (S. 201)

"Ich finde, das Bild mit dem Tempel passt sehr gut: Dein Körper ist ein Tempel, und du bestimmst die Öffnungszeiten. Vielleicht sogar einen Tag der offenen Tür. Und sein Schutzkonzept. Du bestimmst all das, was im Tempel, am Tempel und um den Tempel herum passiert. Dein Tempel, deine Gartenbepflanzung." (S.112)

Anna Rosenwasser ist LGBTQ-Aktivistin und Politinfluencerin. Sie schreibt für die queere Community und ihre Mitmenschen, sie schreibt über Menschenrechte, (Queer-)Feminismus und Anziehung. Sie klärt auf, ist hässig (über Ungerechtigkeiten), macht Mut und leistet Widerstand gegen festgefahrene Normen. Sie plädiert für die Liebe - und dies immer wieder mit viel Humor.

Ich liebe ihre Kolumnen, im Magazin Saiten ist ihr Text immer das erste, was ich im neuen Heft lese. Dank ihr habe ich sehr viel gelernt über die Vielfalt der Geschlechter, über die gendergerechte Sprache und dass wir leider immer noch sehr weit davon weg sind, alle Menschen gleich zu behandeln.

Gerron
704 Seiten

"Ein toter Held ist auch nur eine Leiche."

"Man müsste tot sein können, ohne vorher sterben zu müssen. Das wäre eine Alternative."

Die Geschichte über Kurt Gerron, Jude, in Berlin aufgewachsen. Im ersten Weltkrieg noch als Feldsoldat im Krieg, keine 18 Jahre alt und verwundet, darf er zurück. Entdeckt die Schauspielerei, den Film. Wird berühmt und verpasst die Flucht vor den Nationalsozialisten. Mit seiner Frau verbringt er eine leidvolle Zeit in diversen Lagern. 1944 wird ihm befohlen, einen Film über die eingesperrten Juden in Theresienstadt zu drehen, völlig verfälscht soll er das Leben dort als Paradies zeigen. Um seinen Transport nach Ausschwitz zu verhindern, beginnt er mit den Dreharbeiten.

Die Geschichte lässt einem nicht mehr los. Teilweise etwas langatmig und zäh.