Gesamtausgabe
816 Seiten

Ich habe das in der Schulzeit nie gelesen (im Unterricht bestand das Thema "Anne Frank" aus: "Ja, die gab es und war versteckt"). Im Zuge der ganzen NS-Vergleiche der Querdenker habe ich endlich die Gesamtausgabe von meinem Stapel ungelesener Bücher gezogen.

Die Lektüre hat mich erschüttert, weswegen ich sie auch immer wieder unterbrechen musste. Die ganze Zeit zu wissen, wie die Sache endet, das hat mich extrem mitgenommen. Man hat die ganze Zeit vor Augen, wie gut eine Anne Frank für das Nachkriegseuropa gewesen und geworden wäre. Auch ohne Tagebuch hätte sie es gewiss zu Berühmtheit gebracht. Mehr will ich hier auch nicht schreiben.

Die editorischen Ergänzungen wie ihr Schöne-Sätze-Buch, Stammbäume, etc. waren aufschlussreich.

Ich finde es schlimm, dass ich es erst jetzt gelesen habe. Jeder Schüler sollte es verpflichtend durchnehmen. Eine Sternebewertung erübrigt sich hier meiner Ansicht nach.

Shining
624 Seiten

Englischlehrer, Alkohol, psychoexistenzialer Horror, unschuldige Kinder, gutmütige Schwarze. Was klingt wie eine Stephen-King-Blaupause, das ist es auch. Es ist aber gut. Mir gefiel die Isolation sehr gut und die offensichtlichen Themen. Es gab auch subtilere Themen, die ich vielleicht auch einfach nur hineininterpretiert habe, aber in dem Verfall von Jack sah ich es eher als Archetypus. Und die Komponente der Erbärmlichkeit

Feuer der Freiheit
400 Seiten

Ich habe das Buch über Cassirer, Heidegger, Wittgenstein und Benjamin sehr gemocht und war freudig überrascht, als ich bei Denis Schecks literarischem Quartett gesehen habe, dass Eilenberger ein neues Buch geschrieben hat. Dieses Mal über vier PhilosophINNEN (ohne Genderpause). Diese waren Ayn Rand, Hannah Arendt, Simone Weil und Simone de Beauvoir. Das Jahrzehnt war 1933-1943. Man ahnt, dass das Denken der Damen durchaus von Hitler und dem Zweiten Weltkrieg geprägt war (bis auf vielleicht Ayn Rand).

Simone de Beauvoir: Sie war mir schon zuvor bekannt, unter anderem vom ebenfalls sehr guten Buch "Cafe der Existenzialisten". Es war aber erfrischend zu sehen, wie sie ihre Gedanken im Lauf der Jahre entwickelte und wie wichtig die Emanzipation von Sartre war. Hannah Arendt: Ich fand es interessant, wie sehr sie T. Wiesengrund Adorno nicht mochte und wie allein sie gegen die zionistischen Juden stand, sie wollte nämlich keinen jüdischen Nationalstaat auf palästinensischem Gebiet, bei dem die Mehrheitsbevölkerung der Araber nur Minderheitenrechte bekommen sollte und auf die Hilfe externer Länder angewiesen sein muss, weil die arabischen Länder darum herum aufkommen antisemitisch wurden und sicherlich not amused sein würden; vielmehr schlug sie eine Art Föderalismus vor i.S.v. den Vereinigten Staaten, in denen sie auch zunehmend isoliert wurde. Im Prinzip wird sie auch heute, trotz ihrer wichtigen antitotalitaristischen Forschung von der akademischen Philosophie übergangen. Schade. Ayn Rand: kannte ich bisher nur als "Rechsradikale, die aber auch den Libertarismus irgendwie gemacht hat, was an sich minimal widersprüchlich ist". Es war interessant, wie sehr ihre Philosophie die des Egos ist. Ich hätte gerne eine Analyse von "Coriolan" von ihr gelesen. Tatsächlich steht sie mit ihrem Schaffen mMn in der Tradition von Nietzsche, ihr Romanheld hat viel von Zarathustra und dem Gedankengut des "Übermenschen" (nicht so, wie die Nazis ihn definierten, sie wären laut Nietzsche der letzte Mensch gewesen, der Erdenfloh). Sehr spannend war die Info, dass einer ihrer "Schüler" Alan Greenspan war, der fast 20 Jahre Chef der amerikanischen Notenbank war. Ziemlich neutral also und gar nicht "Don't tread on me". Heutzutage ist Rand aktueller denn je, nach der Bibel ist ihr Werk das meistgekaufte in den Staaten und die Tea Party Bewegung hat nach der Wirtschaftskrise neuen Schwung bekommen. Simone Weil: war mir völlig unbekannt. Sie hat kein wirkliches Corpus an Ideen, sondern war Situationsphilosophin. Ich möchte mich trotz dessen, dass sie tw "esoterisch" drauf war, bzw viel mit Buddhismus verknüpfte und recht viel Theologie machte, näher mit ihr beschäftigen. Vor allem, weil Albert Camus den Hinterbliebenen in einem Brief schrieb, dass sie die Philosophin, die einzige, des 20. Jahrhunderts sei und er nur seinen winzigen Teil leisten könne, sie bei Gallimard zu verlegen. Wenn der King das sagt, dann muss dem Folge geleistet werden. Ich meine, das Buch endet auch mit dem Appell, dass es gelte, ihr Werk zu entdecken.

Die profanen Stunden des Glücks
400 Seiten

Ich möchte nicht gegen die Community-Richtlinien verstoßen, deshalb sei nur so viel gesagt: Man stelle sich vor, man ist ein Baum, leistet Jahrzehnte Dienste iSv Sauerstoff und endet dann als Papier, auf dem dieser Roman gedruckt wurde. Zudem ist es mir noch nie so unangenehm aufgefallen, dass eine Autorin nicht in der Lage war, sich in die Gefühlslage eines Mannes zu versetzen. Das komplexe Spiel aus Ehre, tatsächlichen Emotionen und Pflichtbewusstsein, das zu Zeiten Goethes (da spielt dieser zum Historienroman aufgeblasene Wikipediaeintrag) noch wesentlich ausgeprägter war, wurde von der Protagonistin, die sich als "Gute Ehefrau verstand, nicht begriffen und in ekligem Egoismus übergangen. Das stieß mir tatsächlich auf, denn diese Inkonsistenz wurde nie benannt.

Einziges Glück ist, dass ich das für einen Euro auf einem Flohmarkt kaufte.

Brennen muss Salem
734 Seiten

Nach der Lektüre von diesem Roman ist mir aufgefallen, dass die Romane von Stephen King derart viele Parallelen haben, dass man von Beinahe-Kongruenz sprechen kann. Nicht nur Dinge wie der Maine'sche Spielort, der Englischlehrer der cool ist und Rockmusik mag (self-insert) und das unschuldige, aber flink denkende Kind, sondern so ziemlich alles andere auch. Das ist aber nicht schlimm.

Mir gefiel dieser Vampirroman ziemlich gut. An manchen Stellen fühlte es sich an wie ein Seuchenbuch und sehr stark wie "ES", aber auch das war nicht schlimm.

Und zur Abwechslung war es nett, dass nicht David Nathan, sondern Mr. Krabs aka Benjamin Blümchen aka Jürgen Kluckert las.

& Trotzdem
80 Seiten

Dieses Büchlein umfasst zwei Gespräche, die von Schirach und Kluge zu Beginn der Pandemie hielten. Mal davon abgesehen, dass das vielmehr wirkt, als hätten sie aufgeschrieben, was sie gesagt hätten: Ganz angenehm, den beiden zuzuhören. Mich würde ein follow-up zu diesem 2. Wellenbrecher-Lockdown light interessieren, vor allem in Anbetracht des juristischen Hintergrundes der zwei.

Brief an einen Schwan
128 Seiten

Ich hatte eines dieser seltenen Ereignisse, bei welchem man sich für gewöhnlich denkt: "Ja, das war jetzt ein literarisches Ereignis". Die Kurzgeschichten hatten allesamt ein unbewusst seltsames Element, die aber gleichzeitig unglaublich fesselnd waren. Dass es mich stellenweise an Kafka erinnerte, wenngleich ein Jahrhundert nach vorne katapultiert, war auch nicht schlecht

Schöne Neue Welt
368 Seiten

Oft nennt man "1984" und ebendieses Werk in einem Atemzug und ich frage mich, warum das geschieht. Es ist eher ein Armutszeugnis, das die Autoren bestätigt, denn nur oberflächlich haben sie etwas gemein; in sich unterscheiden sie sich sehr.

In diesem Werk finden sich viele Dinge, die in mir (der Dostojewski ("Lieber erhabenes Leid als leichtes Glück) et al. schätzt) das absolute Grauen auslösen. Masse statt Klasse; der letzte Mensch nach Nietzsche (der Erdenfloh, der alles niedertrampelt; nicht subtil in der Exilszene John Savages zu sehen); Hedonismus (und damit Nihilismus, den man entmanteln muss und der sich in aller Grausamkeit offenbart), der nach nichts strebt; alle sind auf Drogen ("Soma"). Und dies alles vor der Konditionierung, die die "Zivilisierten" von der Wiege ab erhalten. Die Figur des Controllers fand ich seltsam, dem "Warum schießt Meursault und warum schießt er dann noch ein paar mal" ähnlich. Ein intelligenter Mann, der alles durchblickt und vor die Wahl gestellt wird, zu den frei denkenden Menschen zu kommen oder in dem zu verachtenden System Karriere zu machen und er wählt Zweiteres? Da kann man lange überlegen, warum er das so machte.

Wenn man dieses Buch gelesen hat, dann kann man nicht mehr "Imagine" hören.

Die Tote in der Blau
208 Seiten

Das war ein amüsanter Krimi, denn man konnte die Straßen in Gedanken mitverfolgen und den Ermittlern hinterhertrotten. Manche Restaurants haben andere Namen erhalten, waren aber auch gut erkennbar. Die letzten Seiten waren vielleicht ein wenig schwächer, aber dennoch war die ganze Sache recht rund.

Tractatus Logico-Philosophicus
116 Seiten

Zwei Dinge führten mich zu Wittgenstein: das Hören des Hörbuchs "Zeit der Zauberer" und das Werk von David Foster Wallace (Sein "Besen im System" greift viele Referenzen auf und behandelt die Sprache und das Zeigen Wittgensteins; seine Buchbesprechung von "Wittgensteins Mätresse" hatte ihn sogar als "wissenschaftlichen" Gegenstand und das nicht gerade unspannend.

Der Text ist nicht direkt erschließbar, aber wenn man, wie W. anmerkt, am Ende die Leiter umstößt, dann hat man durchaus amüsante Einsichten gewonnen.

Über das Vergnügen zu hassen und andere Essays
96 Seiten

Den Blick auf den Hass aus den Augen eines Menschen des 19. Jahrhunderts ist recht amüsant gewesen. Um Unliebsames zu verstehen hilft es mMn besser, die Liebe dazu zu ergründen, um die Verachtung besser zu verstehen. Über Vorurteile, unliebsame Menschen und die Angst vor dem Tod ging es in den anderen drei Essays. Diese gefielen mir auch. Allgemein war das Schreiben von Hazlitt durchsetzt mit Shakespeare-Zitaten. Da er alle Dramen kommentierte und das als Buch rausbrachte, konnte we wohl nicht anders.

Der ewige Faschismus
80 Seiten

Gute Essaysammlung mit starkem Vorwort von Roberto Saviano. Bei manchen Punkten, die Eco anbringt (nicht im titelgebenden Essay), würde ich mir eine Diskussion zB mit Martin Sellner wünschen, damit der Ösi mal mit "wenigen grundlegenden Argumentationen" demontiert wird (denn als ich las, dass damals, als in Italien 12.000 Albaner in einer Woche kamen, nicht "Wir hassen die weil... Rassismus", sondern "Hehe, Ökonomie, Demographie" (#geburtenraten) skandiert wurde, musste ich an diesen Menschen, den ich nicht leiden kann, denken). Aber auch eine Diskussion mit Nicht-AfDlern wäre interessant, denn was er, der ein Transkulturelles Netzwerk zur Völkerverständigung aufbaute (reziproke Ethnologie), zu zB political correctness, bzw seine Ansicht "Harmonie kommt mit Akzeptanz der Unterschiede, nicht mit dem Gleichmachen der Unterschiede" zu sagen hatte, wäre sicher einen Twitter-Shitstorm, einen Leitartikel bei der taz und drei Tage Witze über alte Aussagen Ecos wert.

Der Spaß an der Sache
1088 Seiten

In Lachen gegossenes Denken

Ich las sehr lange an dieser Essaysammlung, manche Essays wegen ihrer Schlagkraft mehrmals. Ich tat es aus genießerischen Gründen. Denn die Formulierung im Vorwort, dass DFW ein "Hirnschrittmacher" sei, die kann man allenthalben als überaus passend bewerten. Sprachlich sind die 1038 Seiten eine derartige Liebeserklärung an das geschriebene Wort, dass einem die Tränen kommen können. Stilistisch, Stichwort seitenlange Fußnoten, ebenso. Inhaltlich ebenso. Diese Lektüre hat mich nachhaltig verzaubert und verändert. So zu sehen wie DFW, das sollte ein Ziel sein; eine thalamische Fehlregulation bei gleichzeitig hoher corticaler Dichte im Frontalhirn. Der letzte Essay "Das hier ist Wasser" war der perfekte Schluss, weil er die Person hinter den Essays in ein anderes Licht rückte. Diese Erfahrung war im wahrsten Sinne des Wortes umwerfend. Sein in Lachen gegossenes Denken erhielt eine distanzierte Traurigkeitsnote als Beilage. Das für mich Wichtigste war aber das Überwinden der Ironie. Für mich sind Ironiker, die das unironisch tun und das u.U. sogar noch für intellektuell halten, arme Würstchen.

"Einzelkritiken" "Tennis" (n=5, 144 Seiten): Allesamt spannend zu lesen, es geht um sehr vieles. Vor allem die Beschreibung R. Federers war im Nachblick amüsant, da DFW seinen Körper genauer zu kennen scheint als Mrs Federer. "Ästhetik, Sprache und Literatur" (n=16, 340 Seiten): Der Highlight-Teil. Wittgenstein, Dostojewski, Kafkas Komik, Der Spaß an der Sache, Autorität und amerikanischer Sprachgebrauch (!!) waren die besten daraus und diese las ich auch dreimal. Allein eine wittgensteinsche Fußnote vermag alles zu sprengen. "Politik" (n=3, 106 Seiten): In "Hoch, Simba" wird John McCain III bei den GOP-Vorwahlen 2000 begleitet (also vs Bush). DFW ist hier Rolling-Stones-Reporter, begleitet einen Politiker, den er nicht leiden kann, den er aber mit einem solchen nuancierten Blick betrachtet, dass es einem graust. In einer Paralleldimension hätte er vllt Trump begleitet, das hätte ich spannend gefunden, da mich der Berater McCains an einen energiegeladeneren Steve Bannon erinnerte. Werte Leseerfahrung. "Von Mrs Thompsons Warte" behandelt 9/11 und das war spannend, wegen der Fragen "Wo kommen eigentlich all die Flaggen her?" und der Erkenntnis, dass er die Einstellung i.S.v. Ablehnung gegenüber Amerika eher mit den Terroristen teilt als mit den Hausfrauen, bei denen er die Nachrichten verfolgte. Die Fragen in "Ich frag ja bloß" wurden dann 2007 gestellt und behandeln die Nachwirkungen 9/11s. Es geht um die Franklinsche Frage von Freiheit vs Sicherheit; bei gleichzeitiger Frage, ob die USA noch demokratiedenkfähig sind. "Film, Fernsehen und Radio" (n=3, 160 Seiten). Nicht ganz so spannend. David Lynch behandelt zu wissen (mit Blue Velvet etc) war aber das beste davon. "Moderator" war auch nicht schlecht. "Unterhaltungsindustrie" (n=4, 256 Seiten): Der Besuch bei der Landwirtschaftsmesse (1) in Illinois machte DFW als "Reporter" berühmt, sodass das Harper's Magazine ihn auch auf Kreuzfahrt schickte (2). Beide Berichte sind derart lang, dass sie Buchform erreichten. Die Kreuzfahrtsache sollte jeder mal gelesen haben. Zwischen Traurigkeit, Zwang zum Entspannen und neurotischem Beschreiben findet sich viel mehr. "Der große rote Sohn" (3) ist ein Besuch der Porno-Oscars. Dies war mehr amüsant als denkwert. "Am Beispiel des Hummers" dürfte einer der bekanntesten Texte sein und es ist einer der besten. Zwischen PETA und Gourmet liegen Welten und DFW kann sich nicht entscheiden, auf welcher er (oder der Leser der Zeitschrift "Gourmet", für die er das lustigerweise schrieb, da es um das Maine Lobster Festival ging) sein will/kann. Unfassbar gut. "Leben" (n=2, 18 Seiten): "Neues Feuerspeien" ist eine Ode an AIDS, bzw die Rückeroberung der Gefahr der Sexualität, was erst dumm klingt, tatsächlich aber im sexualhistorischen Kontext schlüssig ist. Und "Das hier ist Wasser" ist "ohne Worte", um 1 Klischeephrase zu haben.