Findet mich
324 Seiten

Doris Wirths Roman Findet mich erzählt die Geschichte einer Familie, deren Vater, Erwin, in eine Psychose abgleitet, alles hinter sich lässt und in die Wälder flüchtet bzw. flüchten möchte. Damit führt er die Familie an den Rand des Zusammenbruchs. Erwins Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven und über mehrere Jahrzehnte hinweg erzählt: aus der Sicht Marias, Erwins Frau, sowie aus der Sicht von Florence und Lukas, den beiden Kindern. Dadurch wird eine detaillierte Familiengeschichte geschildert, die jedoch keine einfachen Erklärungen bietet. Stattdessen handelt es sich um eine vielschichtige Erzählung über familiäre Bindungen.

Besonders beschäftigt hat mich, dass Maria bis zuletzt bei Erwin bleibt. Auch wenn Erwin immer weiter abdriftet, steht das Bedürfnis nach Stabilität über allem. Der Familie gelingt es nicht, die Probleme anzugehen oder Veränderungen herbeizuführen. Florence fasst dies prägnant zusammen: „Heile Familie, nicht wahr?“

Findet mich wurde aus meiner Sicht völlig zu Recht für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert.

Trophäe
256 Seiten

Ein Text wie ein Fiebertraum. Nach dem Lesen habe ich mich auch genau so gefühlt: erschlagen, verwirrt und zugleich klar, mit einem Gefühl, das Menschsein in seinen tiefsten Abgründen jetzt ein bisschen besser zu verstehen. Zudem habe ich viel gelernt über die Grosswildjagd und die skurrilen Blüten, die der Artenschutz dabei treibt, über den westlichen Blick auf ‚Afrika‘ und nicht zuletzt über Vorstellungen von ‚Männlichkeit‘ und ihre schädlich Auswirkungen auf Menschen jeden Geschlechts.

Mitte des Lebens
272 Seiten

Mit hat Barbara Bleischs Bild gefallen, wie sie das Leben wie eine Landkarte auffaltet und die Topographie studiert und weisse Flecken zu entdecken versucht. Den Anfang und Schluss des Buches habe ich mit Genuss gelesen. Dazwischen waren für mich, der ich wenig Praxis mit philosophischen Texten habe, die Erörterungen doch ein bisschen anstrengend. Und was bleibt? Offenheit und die Bereitschaft sich einzulassen.

Mittsommertage
284 Seiten

"Mittsommertage" von Ulrich Woelk hat mir sehr gut gefallen - natürlich auch, weil es ein Buch ist, das meine Generation anspricht. Die Handlung: Ruth Lember, eine erfolgreiche Ethikprofessorin, soll in Deutschen Ethikrat einberufen werden. Ihr Leben scheint in dieser Zeit perfekt zu sein, mit ihrem Mann Ben, der einen Architekturwettbewerb gewinnt, und ihrer Ziehtochter Jenny, die sich in der Klimabewegung engagiert. Ruth wird mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert, als ein frühere Freund auftaucht, und sie mit Dokumenten von einem Anschlag aus aus ihrer Zeit als Umweltaktivistin in den 80er Jahren konfrontiert. Der Anschlag auf einem Strommast ist zwar nicht gravierend, aber Ruths politische Vergangenheit ist ein gut gehütetes Geheimnis, das ihre Karriere gefährden könnte.

Die Handlung des Romans zeigt, dass Biografien nicht immer geradlinig verlaufen und dass die Vergangenheit uns immer begleitet, auch wenn wir sie zu vergessen versuchen. Entsprechend wird das Zitat von William Faulkner zu einem Leitmotiv: "Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen". Ob es Ruth schafft, das zu tun, was am Anfang des Buches steht und zu ihrer eigenen Geschichte zu stehen? „Vielleicht wäre es ja gut, wenn jemand mal den Mut aufbrächte zu sagen: So ist das, so laufen manche Biografien.“ Ein lesenswertes Buch!

Die Kinder sind Könige
320 Seiten

Christine Diore und ihr Mann betreiben einen erfolgreichen YouTube-Kanal, mit dem sie sehr viel Geld verdienen. Stars dieses Kanals sind ihre beiden Kinder Sammy und Kimmy, die von ihrer Mutter rund um die Uhr inszeniert werden. Eines Tages verschwindet Kimmy. Christiane Diore gegenüber steht Clara, die Polizistin, die die verschwundene Kimmy suchen muss. Ein Buch, das ich fast nicht zur Seite legen konnte und verschlungen habe. Im Kern geht es im Buch um die Frage nach Freundschaft, Liebe und Anerkennung in unserer Zeit, in der die Sozialen Medien eine (zu) grossen Platz einnehmen: Zitat aus dem Buch: „Big Brother hatte es gar nicht nötig gehabt, sich durchzusetzen. Big Brother war mit offenen Armen und nach Likes dürstenden Herzen empfangen worden, und jeder war bereit gewesen, sein eigener Henker zu sein. Die Grenzen des Privaten hatten sich verschoben. Die sozialen Netze zensierten Bilder von Brüsten und Pos. Aber für einen Klick, ein Herz oder einen hochgereckten Daumen zeigte man seine Kinder und seine Familie, erzählte man sein Leben. Jeder war zum Administrator seiner Selbstdarstellung geworden und diese ein unverzichtbares Element der Selbstverwirklichung.“

Der Berg, der Menschen frisst
280 Seiten

Der baskische Journalist Ander Izagirre schaut in seinem Buch über die Minenarbeiter Boliviens, mit Fokus auf die Kinder, die unter Tage arbeiten, tief in die Seele der Andenbewohner. Nebst der Kritik an den sozialen Missständen, schreibt er, wie nebenbei, noch eine kurze Geschichte des Andenstaates. Ausgehend von den reichen Rohstoffen des Cerro Rico in Potosí, dessen Silber das Rückgrat des Spanischen Kolonialismus bildete, über die Zinnvorkommen in Llallagua, die einen bolivianischen Glücksritter namens Simon Patiño zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum fünftreichsten Menschen des Planeten machte, bis hin zur Verstaatlichung der Minen in den 1950er-Jahren und deren erneute Privatisierung in den 1980er-Jahren, ist die Geschichte des Bergbaus eng mit der des Staates verwoben.

Dass man den Gipfel des Cerro Rico in jüngster Vergangenheit stabilisieren musste, damit Erdrutsche nicht die darunterliegende Stadt zerstören und die Rohstoffe des Berges, der mittlerweile mehr einem Schweizer Käse gleicht, weiterhin ausgebeutet werden, trotz unzähliger Gefahren beim Abbau und der gesundheitsschädigenden Staubluft in den Stollen, zeugen von der Verzweiflung der indigenen Bevölkerung.

Die Darstellung eines Staates, der zuerst von europäischen Imperialisten, dann von der eigenen Elite geplündert wurde und seither wegen den Launen des Welt-Rohstoffmarktes immer wieder in prekäre Situationen trudelt, kontrastiert mit der ergreifenden Geschichte der vierzehnjährigen Alicia Quispe, die in der schulfreien Zeit Loren aus den Stollen schiebt, um für die Familie ein wenig Geld zu verdienen. Eine lesenswerte Dokumentation!