"Mittsommertage" von Ulrich Woelk hat mir sehr gut gefallen - natürlich auch, weil es ein Buch ist, das meine Generation anspricht. Die Handlung: Ruth Lember, eine erfolgreiche Ethikprofessorin, soll in Deutschen Ethikrat einberufen werden. Ihr Leben scheint in dieser Zeit perfekt zu sein, mit ihrem Mann Ben, der einen Architekturwettbewerb gewinnt, und ihrer Ziehtochter Jenny, die sich in der Klimabewegung engagiert. Ruth wird mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert, als ein frühere Freund auftaucht, und sie mit Dokumenten von einem Anschlag aus aus ihrer Zeit als Umweltaktivistin in den 80er Jahren konfrontiert. Der Anschlag auf einem Strommast ist zwar nicht gravierend, aber Ruths politische Vergangenheit ist ein gut gehütetes Geheimnis, das ihre Karriere gefährden könnte.

Die Handlung des Romans zeigt, dass Biografien nicht immer geradlinig verlaufen und dass die Vergangenheit uns immer begleitet, auch wenn wir sie zu vergessen versuchen. Entsprechend wird das Zitat von William Faulkner zu einem Leitmotiv: "Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen". Ob es Ruth schafft, das zu tun, was am Anfang des Buches steht und zu ihrer eigenen Geschichte zu stehen? „Vielleicht wäre es ja gut, wenn jemand mal den Mut aufbrächte zu sagen: So ist das, so laufen manche Biografien.“ Ein lesenswertes Buch!

Christine Diore und ihr Mann betreiben einen erfolgreichen YouTube-Kanal, mit dem sie sehr viel Geld verdienen. Stars dieses Kanals sind ihre beiden Kinder Sammy und Kimmy, die von ihrer Mutter rund um die Uhr inszeniert werden. Eines Tages verschwindet Kimmy. Christiane Diore gegenüber steht Clara, die Polizistin, die die verschwundene Kimmy suchen muss. Ein Buch, das ich fast nicht zur Seite legen konnte und verschlungen habe. Im Kern geht es im Buch um die Frage nach Freundschaft, Liebe und Anerkennung in unserer Zeit, in der die Sozialen Medien eine (zu) grossen Platz einnehmen: Zitat aus dem Buch: „Big Brother hatte es gar nicht nötig gehabt, sich durchzusetzen. Big Brother war mit offenen Armen und nach Likes dürstenden Herzen empfangen worden, und jeder war bereit gewesen, sein eigener Henker zu sein. Die Grenzen des Privaten hatten sich verschoben. Die sozialen Netze zensierten Bilder von Brüsten und Pos. Aber für einen Klick, ein Herz oder einen hochgereckten Daumen zeigte man seine Kinder und seine Familie, erzählte man sein Leben. Jeder war zum Administrator seiner Selbstdarstellung geworden und diese ein unverzichtbares Element der Selbstverwirklichung.“

Der baskische Journalist Ander Izagirre schaut in seinem Buch über die Minenarbeiter Boliviens, mit Fokus auf die Kinder, die unter Tage arbeiten, tief in die Seele der Andenbewohner. Nebst der Kritik an den sozialen Missständen, schreibt er, wie nebenbei, noch eine kurze Geschichte des Andenstaates. Ausgehend von den reichen Rohstoffen des Cerro Rico in Potosí, dessen Silber das Rückgrat des Spanischen Kolonialismus bildete, über die Zinnvorkommen in Llallagua, die einen bolivianischen Glücksritter namens Simon Patiño zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum fünftreichsten Menschen des Planeten machte, bis hin zur Verstaatlichung der Minen in den 1950er-Jahren und deren erneute Privatisierung in den 1980er-Jahren, ist die Geschichte des Bergbaus eng mit der des Staates verwoben.

Dass man den Gipfel des Cerro Rico in jüngster Vergangenheit stabilisieren musste, damit Erdrutsche nicht die darunterliegende Stadt zerstören und die Rohstoffe des Berges, der mittlerweile mehr einem Schweizer Käse gleicht, weiterhin ausgebeutet werden, trotz unzähliger Gefahren beim Abbau und der gesundheitsschädigenden Staubluft in den Stollen, zeugen von der Verzweiflung der indigenen Bevölkerung.

Die Darstellung eines Staates, der zuerst von europäischen Imperialisten, dann von der eigenen Elite geplündert wurde und seither wegen den Launen des Welt-Rohstoffmarktes immer wieder in prekäre Situationen trudelt, kontrastiert mit der ergreifenden Geschichte der vierzehnjährigen Alicia Quispe, die in der schulfreien Zeit Loren aus den Stollen schiebt, um für die Familie ein wenig Geld zu verdienen. Eine lesenswerte Dokumentation!