Babel
736 Seiten

Der Originaltitel lautet: "Babel: Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators' Revolution", und ich kopiere mal die Zusammenfassung aus der englischsprachigen Wikipedia (ohne Übersetzung): "Babel is set in an alternative-reality 1830s England in which Britain's global economic and colonial supremacy are fueled by the use of magical silver bars. Their power comes from capturing what is "lost in translation" between words in different languages that have similar, but not identical, meanings. Silver bars inscribed with such 'match-pairs' can increase industrial and agricultural production, improve the accuracy of bullets, heal injuries, and more. To harness this power, Oxford University created the Royal Institute of Translation, nicknamed "Babel", where scholars work to find match-pairs. The plot is focused on four new students at the institute, their growing awareness that their academic efforts maintain Britain's imperialist supremacy, their debate over how to prevent the Opium War, and the use of violence."

Es geht also einerseits zunächst einmal um Übersetzung, um Sprachen, die in der alternativen Zeitlinie des Romans magische Veränderungen in der Welt bewirken können. Sprache ist Magie ist die stärkste Macht der Welt. Naja, vielleicht sind Kapitalismus, Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus noch stärker und beharrlicher. Aber das finden die Protagonisten (und Lesenden) erst nach und nach heraus. Der Weg dahin ist beschwerlich (auch für die Lesenden, weil teilweise sehr detail-lastig mit vielen Fußnoten, weil teilweise auch grausam), aber erkenntnisreich und größtenteils unterhaltsam und spannend. Die Handlung nimmt in der zweiten Hälfte ordentlich Fahrt auf und endet mehr oder weniger mit einem Höhepunkt.

Der Trick mit der Silber-Magie und der alternativen Zeitlinie funktioniert, und er funktioniert vielleicht deshalb so gut, weil viele Ereignisse und Mechaniken auch in unserer Zeitlinie ohne das Silber ganz genauso passierten oder zumindest hätten passieren können. Das macht alles greifbarer, konkreter und relevanter. Es geht nicht nur um allgemeine, abstrakte Konzepte (wie "Liebe" oder "Hass" o.ä.), sondern um tatsächliche Geschichte, die sich wiederholt. Die Parallelen, die sich aus der Zeit der späten Industriellen Revolution speisen, aber auch auf heute spiegeln lassen, sind zum Teil frappierend.

Manche der Figuren, ihre Erfahrungen und Mindsets, könnten auch im 21. Jahrhundert leben, sind aber gefangen im britischen Empire der 1830er Jahre. Dadurch, finde ich, hat das Buch durchaus aktuelle Relevanz, kann aber auch als historischer Roman gelesen werden, aber auch als (satirischer) Blick auf den akademischen Betrieb. Und das ist wahrscheinlich das Besondere an "Babel" und die hervorzuhebende Leistung der Autorin.

Babel
736 Seiten

Dieses Buch ist ungewöhnlich; es ist so viel Wissen enthalten, verbunden mit Gesellschaftskritik und ein bisschen Fantasy. Für mich ist es vor allem ein Buch über die Bedeutsamkeit von Sprache: „ Ich glaube, genau darum geht es beim Übersetzen. Darum geht es beim Sprechen. Einander zuhören und versuchen, an den eigenen Vorurteilen vorbeizugucken, um einen Blick auf das zu erhaschen, was der andere einem sagen will. Ein Stück von sich selbst preisgeben und hoffen, dass jemand anders es versteht.“

Babel
736 Seiten

Robin Swift ist einer der wenigen Überlebenden einer Cholera-Epidemie im chinesischen Kanton. Gerettet wird er von Professor Lovell, der ihn nach England bringt, um dort verschiedene Sprachen zu lernen. Mit dem erlernten Wissen kommt er schließlich nach Babel, dem Königlichen Institut für Übersetzung, um dort sein Studium anzufangen. Zusammen mit seinen Freunden Ramy, Victoire und Letty genießt er seine Studienzeit. Bis er unerwartet auf seinen Halbbruder Griffin stößt, der Teil des Hermes-Bunds ist, um für die Gerechtigkeit in England zu kämpfen. Robin beschließt, ihm zu helfen. Doch wie soll er sich allein gegen eine ganze Gesellschaft stellen – vor allem, wenn er selbst zu denen gehört, die ihre Vorzüge genießen?

Dieser Roman hat durch die magischen Wortpaare, die verschiedene Fähigkeiten haben, einen leicht fantastischen Einschlag, ist davon abgesehen aber ein Roman, der auch für Nicht-Fantasy-Fans geschrieben ist. Das liegt vor allem daran, dass nicht die Magie, sondern die Wörter, Spannungen und Themen es sind, die das eigentliche Zentrum der Handlung bilden – und mithilfe des flüssigen Schreibstils einen Roman erschaffen, der nicht nur gut zu lesen ist, sondern auch sehr zum Nachdenken anregt.

Sehr faszinierend fand ich den Fokus auf Sprachen und Übersetzungen. Die Magie in dieser alternativen Welt wird dadurch bewirkt, dass auf Silberbarren Wortpaare eingraviert werden, die ein Wort und dessen Übersetzung in einer anderen Sprache bilden, wobei ihre kombinierte Bedeutung einen magischen Effekt auslöst. Dabei geht die Autorin stark auf den Ursprung der jeweiligen Wörter ein, wie vielschichtig scheinbare offensichtliche Übersetzungen sind und auf welche Weise ähnliche Wörter miteinander verwandt sind. Die Tiefe, die R. F. Kuang dem Übersetzungsinstitut gibt, war unglaublich faszinierend – obwohl ich selbst nur ein marginales Interesse an verschiedenen Sprachen bzw. Übersetzungen habe, habe ich die Informationen gierig in mich aufgesaugt. Dadurch, dass ich selbst die Übersetzung dieses Buches lese, wurden die Diskussion zu Übersetzungen richtig meta, was mir ebenfalls sehr gefallen hat.

Davon abgesehen spricht die Autorin auch andere, wichtige Themen an, speziell die Ungerechtigkeit zwischen Menschen verschiedener Herkünfte, Geschlechter und Hautfarben. Sie hat sehr deutlich gemacht, wie leicht es ist, als privilegierte weiße Person wegzusehen und die Missstände zu ignorieren, und wie schwer es ist, sich als benachteiligte Schwarze Person nicht nur Gehör, sondern tatsächliche Rechte zu verschaffen. Die Art und Weise, wie diese Themen in ihrem Roman eingebaut sind, hat mich sehr berührt und daran erinnert, wie wichtig es ist, dass jeder und jede Einzelne gegen die Ungerechtigkeit kämpft.

Nur eine Kritik habe ich: Nämlich die Fußnoten, die nebenbei erwähnte Details ausführlicher erklären, mich aber auch sehr aus dem Lesefluss gerissen haben. Hier hätte ich mir gerne gewünscht, dass die Autorin einen Weg gefunden hätte, die Informationen irgendwie in ihre Geschichte einzubauen, weil ich einen beträchtlichen Teil durchaus interessant fand. So, wie die Fußnoten sind, ist es leider besser, sie für einen ununterbrochenen Lesefluss einfach zu ignorieren.

Doch mit Ausnahme dieses Manko hat der Roman alles, was es braucht, um seine Leserinnen und Leser in eine tiefgründige Geschichte zu entführen – und ihnen gleichzeitig die harsche Realität aufzuzeigen. Von mir gibt es auf jeden Fall eine Leseempfehlung!