Dieses Buch hatte eine der seltsamsten und verwirrendsten Wendungen überhaupt und hat sich dann GANZ anders entwickelt, als man es zu Anfang hätte erwarten können. Gute Arbeit.
Vor fast genau einem Jahr hatte ich mein Science Fiction-Debüt mit Brandhorsts Das Kosmotop. Das war für mich ein ziemlich harter Brocken: zum ersten mal richtige SF und dann auch noch so komplex und detailreich, mit rasanten Reisen mit und durch alle möglichen und unmöglichen Gegenden und Maschinen und natürlich mit politischen Verwicklungen und Intrigen. Trotz der recht anstrengenden Lektüre konnte mich das Buch damals so richtig fesseln und ich bin dem Genre treu geblieben. Allerdings habe ich in der Zwischenzeit keine derart komplexe SF mehr gelesen, bis dann eben Ikarus vorbeikam. Komplex und groß, diese Eigenschaften scheinen die Romane von Andreas Brandhorst auszumachen und ich kann nur sagen: Das ist gut so.
Zu Beginn von Ikarus wacht der Protagonist Jamo Jamis Takeder auf. Aus dem Schlaf? Keineswegs, denn er wurde ermordet, hat allerdings vorher angeordnet, dass für einen solchen Fall sein Bewusstsein in einen Kopiaten übertragen wird, damit dieser selbst die Ermittlungen durchführen kann. Der Kopiat, komplett violett, erinnert sich jedoch zunächst überhaupt nicht an alles, eine Stimme in seinem Kopf allerdings verrät ihm, dass diese ihm nach und nach mehr enthüllen wird. Was Takeder allerdings spürt, ist der unbändige Wunsch nach der Aufklärung seiner Ermordung.
Ein Kopiat, der sich nicht an die letzten zwei Tage seines Originals, auch nicht an weitere scheinbar wichtige Momente und schon gar nicht an die eigene Ermordung erinnert. Klingt das nicht spannend? Es ist noch spannender! Takeder übernimmt hier die Rolle eines unzuverlässigen Erzählers, weil seine Erinnerungen eben so unvollständig sind. Das ganze Buch hindurch musste ich mich fragen, was wirklich passiert sein könnte und welche Beweggründe sein Original wohl hatte. Die Suche nach dem Mörder ist zwar bis zum Ende eine große Antriebskraft, doch ziemlich schnell wird klar, dass natürlich noch viel komplexere Probleme und Intrigen stattgefunden haben. Diese zu verstehen oder im Kopf zu entwirren war für mich fast unmöglich, sodass ich von Andreas Brandhorst im Verlauf der Geschichte wieder und wieder überrascht wurde. Genau diese Vielschichtigkeit ist es, die den Roman neben der Suche nach dem Mörder die Würze und Spannung gibt.
Der Holder Takeder lebte auf den Planeten Tayfun, der sich mit weiteren von Menschen besiedelten Planeten zur Independenz zusammengeschlossen hat. Diese Independenz wird allerdings, entgegengesetzt zum Namen, von mächtigen Regulatoren kontrolliert und ist somit ganz und gar nicht frei. Das politische und wirtschaftliche System auf diesem Planeten hingegen macht die meisten Menschen erst so richtig unfrei: der originale Takeder war ein Holder, ein Inhaber von Lizenzen, die er verkaufen konnte und somit zu einem der reichsten Männer auf dem Planeten wurde. Die anderen Bewohner teilen sich auf in Kreditoren und Debitoren, wobei man scheinbar besonders schnell in die Situation letzterer herab rutschen kann und es sehr schwierig ist, wieder genügend Kreditorenpunkte zu erarbeiten, um ein normales Leben zu führen. Schuldner sind hier eben nichts wert. Wie das Leben in diesem System also wirklich aussieht, erfährt der Leser hier durch weitere Handlungsstränge und Sichtweisen, die sich nach und nach mit den Ereignissen um Takeder verflechten.
Ikarus glänzt einerseits durch das Spannungsfeld Wissen — Nicht Wissen — Vermutungen, andererseits auch durch faszinierende Details dieser Welt, deren Weite man kaum fassen, die aber trotzdem vor dem inneren Auge zum Leben erwachen kann. Dazu kommt noch der packende Charakter des Kopiaten sowie weitere interessante Charaktere, die sich allesamt rasant und mitreißend entwickeln.
Nina Blazon ist sowieso schon eine sehr beliebte Autorin und die Vorfreude auf und Erwartungen an ihr Belletristik-Debüt “Liebten wir” waren bei vielen Fans extrem hoch, so auch bei mir. Vorwegnehmen kann ich in diesem Sinne gleich, dass ihr mit diesem Debüt ein unglaublich toller Roman gelungen ist. Nina Blazon spielt hier mit menschlichen und psychologischen Abgründen, skurrilen Momenten und einem fast rasanten Roadtrip nach und durch Finnland.
Die Protagonistin dieses Romans, Moira, ist Fotografin und gerade frisch bei ihrem neuen Freund Leon eingezogen. Nun steht das erste Treffen mit seiner Familie bevor und Mo ist aufgeregter denn je, denn eine liebende Familie ist alles, was sie sich wünscht, mehr noch als einen liebenden Partner. Beim Kennenlernen geht allerdings alles schief, was nur schiefgehen kann, und Mo muss flüchten. Kurz bevor sie losfahren kann, sitzt plötzlich Leons Großmutter Anusch mit im Auto und befielt ihr sie mitzunehmen. Und zwar nicht einfach nur nach Hause, nein, Anusch, die eigentlich Aino heißt, möchte nach Helsinki und ihr sind alle Mittel recht, um ihren Willen durchzusetzen. So beginnt also ein ungewöhnlicher Roadtrip zweier Frauen, die sich überhaupt nicht kennen, aber so was von kennenlernen werden.
Moira selbst ist schon eine der gebrochensten Personen dieser Geschichte, die Gründe dafür erfährt man allerdings erst im Verlauf des Romans. Schnell wird jedoch klar, dass sie nicht einfach nur Fotografin ist oder sich hinter ihrer Kamera versteckt, sondern dass sie diese fast als Lupe oder gar Waffe benutzt, um beim Fotografieren all die Abgründe und Geheimnisse der abgelichteten Personen zu ergründen. Zu Beginn wirkt ihr Verhalten noch recht amüsant, als sie eine Hochzeit fotografiert und dabei nicht nur hinter die fröhliche Fassade blickt, sondern auch eine Affäre entdeckt. So witzig das auch klingen mag, so schaurig wird ihr Verhalten allerdings, wenn langsam deutlich wird, warum sie das macht. Und schon befindet man sich überhaupt nicht mehr in einem schönen und kuscheligen Roman, sondern muss sich fragen, wo da überhaupt der Boden ist, auf den man fallen könnte.
Es ist allerdings nicht nur Moira, die in ihrem Leben unter vielen Erfahrungen gelitten hat, im Grunde hat hier jeder Charakater einen ordentlichen Knacks. Anusch/Aino gehört natürlich dazu, auch wenn man hier ebenso lange nicht weiß warum. Zunächst tritt sie als eine sehr herrische und mürrische Person auf, die anderen Leuten, besonders Mo, ständig den Spiegel vorhält und sie dabei oft gründlich vor den Kopf stößt. Ganz allmählich eröffnet sich auch bei Aino eine Vergangenheit, die emotional mitreißt.
“Liebten wir” ist ein unglaublich vielschichtiger Roman: Beginnend bei einer schlimmen Familienfeier, die so viele menschliche Abgründe zeigt, dass mir beim Lesen fast schlecht geworden ist, reisen wir über das Meer nach Helsinki, das für die eine ein Ziel und für die andere nur Flucht ist. Dabei zeichnet Nina Blazon nicht nur ein unglaublich plastisches Bild vom schönen Helsinki, sondern auch umso traurigere Bilder vom Leben mehrerer Personen. Jeder Moment berührte mich dabei ganz tief und hat mich richtig in die Geschichte eintauchen lassen, obwohl sie doch manchmal so voll von negativen Emotionen ist. Auch die neuen zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich hier entwickeln, besonders die zwischen Aino und Mo, haben mich mitfühlen und zittern lassen, denn zwischen all den negativen Erfahrungen waren diese ein richtiger Lichtblick. Doch nicht nur der Gefühlsaspekt steht hier im Vordergrund, auch die Geschichte selbst ist eine unheimlich spannende und mitreißende. Um die Vergangenheit von Moira und Aino — zwei Frauen, die mit ihren Erinnerungen kämpfen — wird lange ein Geheimnis gemacht, das man sich zwar durch einige Hinweise irgendwie zurecht puzzeln kann, das aber am Schluss zu einem sehr überraschendem Ende kommt.
Ich bin mit der Erwartung an dieses Buch herangegangen, eine spannende und interessante Fantasy-Geschichte zu lesen und wurde nicht nur in dieser Hinsicht komplett enttäuscht. Zunächst einmal ist The Queen of the Tearling / Die Königin der Schatten nicht wirklich Fantasy, sondern eher eine Dystopie. Die Geschichte spielt in einer fernen Zukunft und porträtiert eine Gesellschaft, die wieder in die Zeit des Mittelalters zurückgefallen ist. Vor vielen Jahren gab es mit dem “Crossing” eine Besiedelung eines neuen Kontinents und so wurde unter anderem das Königreich Tearling gegründet. Mit vielen Schiffen überquerten sie das Meer, mit dem Ziel von nun an autark und in Frieden zu leben, doch Gegebenheiten der Natur und die umliegenden Königreiche machten den Einwohnern das Leben schwer. Kelsea, die Protagonistin, soll die nächste Königin werden. Da das Leben der Königinnen und Anwärterinnen jedoch zu jedem Zeitpunkt gefährdet ist und sie das Amt sowieso erst mit 19 antreten kann, verbringt sie zu ihrem Schutz ihr komplettes Leben in einer einsamen und versteckten Hütte mit ihren Zieheltern, die gleichzeitig ihre Lehrer sind. Das Buch beginnt damit, dass sie abgeholt wird, um in den Palast gebracht und Königin zu werden.
Zunächst klang das Konzept für mich ziemlich interessant, auch wenn es bis auf ein bisschen Magie doch nicht wirklich Fantasy war. Das habe ich schnell verziehen. Allerdings krankt diese Geschichte an fast allen möglichen Stellen. Ein wichtiger Grund, warum es mir überhaupt nicht zugesagt hat, war unfassbare Langeweile, weswegen ich irgendwann einfach nur noch desinteressiert war. Das lag nicht nur an der Handlung, die sich zäh wie abgekautes Kaugummi gezogen hat und keinen richtigen Höhepunkt vorweisen konnte (damit Band 2 noch einen Sinn hat, nehme ich an), sondern auch an der Welt und den Charakteren, die absolut flach und unglaubwürdig waren und deshalb nicht in meinem Kopf zum Leben erweckt werden konnten. (Meinen Unmut über all diese Eigenschaften werde ich im Folgenden unter anderem an einigen Details festmachen, die allerdings schon sehr früh in der Geschichte genannt werden und deshalb keine Spoiler sind.)
Zuerst zum Worldbuilding: Mit dem “Crossing” ist schon alles schief gegangen, das in meinen Augen nur schiefgehen konnte. Die Menschen sind mit Schiffen übergesiedelt, wobei einige davon untergegangen sind, unter anderem auch das Schiff, auf dem sich ALLE Ärzte und offensichtlich auch alles medizinische Wissen befanden. Im Tearling selbst waren deshalb von Beginn an keine Ärzte vorhanden und es konnten auch keine neuen ausgebildet werden. Da geht sie schon hin, die Glaubwürdigkeit. Welcher klar und logisch denkende Mensch würde denn alle Ärzte auf einem verdammten Schiff zusammen pferchen, wenn es doch die Gefahr gäbe, dass nicht alle Schiffe es schaffen würden? Vor allem konnte auch nicht nachvollziehbar erklärt werden, warum im Tearling jegliche Forschung plötzlich stillstand. Warum ist es nicht möglich die Medizin erneut zu erforschen? Selbst Schuld, wenn sie nachher an den einfachsten Krankheiten verrecken.
Mit der Ankunft in der neuen Welt geht es allerdings direkt weiter: Das Ziel war es, ein autarkes Königreich aufzubauen. Eines also, das sich selbst versorgen und auf Dauer unabhängig bleiben kann. Und was für ein Gebiet sucht sich der namensgebende Herr Tear also aus? Eines, das außer Bäumen und mühsam bebaubaren Feldern nichts weiter hat. Applaus! Das Witzigste daran ist, dass sie natürlich nicht die Einzigen waren, die dort neues Land gesucht haben. Andere Reiche haben sich deutlich bessere Gebiete ausgesucht (und denen sind auch nicht die Ärzte verreckt). Natürlich merken auch diese benachbarten Reiche, dass es im Tearling überhaupt nicht gut läuft, und üben Druck aus. Insbesondere das Reich der roten Königin, Mortmesne, schwingt sich auf und bedroht nicht nur das Tearling, sondern alle Reiche in der Umgebung. Insgesamt hätte ich das Setting eines Königreiches, das einen enormen Rückschlag erlitten hat, sich nun wieder hochkämpfen und dabei die Bedrohung von Mortmesne abwehren muss, unglaublich spannend gefunden. Wenn die Hintergründe allerdings so lächerlich sind, kann ich dieses Worldbuildung nicht nachvollziehen oder ernst nehmen.
Es ist eine Wohltat dieses Buch in den Händen zu halten. Das digitale Cover oder auch ein Foto vom Buch mögen es gar nicht richtig zeigen, doch diese Ausgabe ist eine ganz besondere. Es handelt sich um ein Smartcover, ein gebundenes Buch mit einem weichen Umschlag, das einfach richtig angenehm in der Hand liegt. Hier kommt noch die Lederoptik und auch Haptik dazu. Das Ziel ein altes in Leder gebundenes Buch darzustellen, ist super gelungen. Sollte es die Überlegung geben, ob man sich das Ebook oder die Printausgabe kaufen möchte, plädiere ich ganz laut für letzteres.
In "Chronik der Hagzissa" geht es um Hanna, eine junge Frau, die im Heim aufgewachsen ist, nun zusammen mit ihrer besten Freundin Juls in einer WG wohnt und ein übernatürliches Geheimnis hat: Sie kann Heiligenscheine auf den Köpfen aller Menschen sehen. Diese haben jeweils andere Farben und Stärken und können unter anderem auch anzeigen, dass die Person bald stirbt. Nur ihre Freundin Juls weiß davon. Zur Zeit arbeitet Hanna nur des Geldes und der Beschäftigung wegen in einem Krankenhaus und bekommt zu Beginn dieser Geschichte einen neuen Vorgesetzten. Doktor Wolf Hörling eilt sein Ruf voraus: Er ist ein unglaublich gut aussehender Mann und alle Kolleginnen sind vollkommen aus dem Häuschen. Hanna ist überhaupt nicht an ihm interessiert, aber ausgerechnet sie bittet der neue Arzt um ein Date. Ab diesem Zeitpunkt scheinen die Menschen um Hanna herum plötzlich verrückt zu spielen und sich seltsam zu benehmen, sogar ihrer Oma ist es plötzlich ganz wichtig, ihr etwas Geheimnisvolles mitzuteilen.
Ein anderer Handlungsstrang, dem einige Kapitel gewidmet sind, spielt im Jahre 1584. Dort trifft sich eine Gruppe von Menschen mit verschiedenen übernatürlichen Fähigkeiten, debattiert über Hexenverfolgungen und einen neuen Feind, der immer mächtiger wird.
Die Protagonistin Hanna fand ich von Anfang an faszinierend. Nicht nur ihre übernatürliche Gabe ist spannend, sondern auch ihr Blick auf die Welt und auf andere Personen. Im Hinblick auf ihre gackernden Kolleginnen grenzt sie sich sehr ab und auch sonst ist sie ein interessanter Charakter. Ruhig und nachdenklich, aber nicht langweilig. Ihre beste Freundin Juls hingegen ist das komplette Gegenteil, denn sie ist laut, aufgeweckt und hat immer einen derben Spruch auf Lager, sodass Begegnungen mit ihr zunächst sehr erheiternd waren. Doch auch sie scheint sich plötzlich zu verändern und man fragt sich beim Lesen die ganze Zeit, was denn da los sein könnte und wartet gespannt auf eine Auflösung.
Auch die Handlung in der Vergangenheit hat mir gut gefallen, wenn man von den diversen sehr deutlich und bildlich beschriebenen Gewalttaten mal absieht. Die Gruppe der “Hexen” hat sich durch sehr eindrucksvolle Menschen zusammengesetzt und die Geschichte der Hexenverfolgungen wurde unglaublich bedrückend und eindringlich erzählt. Wie man später im informativen Nachwort von Stefanie Altmeyer erfährt, beruhte all dies leider auf realen Tatsachen.
Die erste Hälfte des Buches konnte mich ziemlich begeistern, danach ist die Geschichte zwar spannend geblieben, aber meine Begeisterung hat leider ein wenig nachgelassen. Hanna hat sich zu einem Charakter entwickelt, der plötzlich viel zu wenig nachdachte oder hinterfragte. Immer wieder gab es Andeutungen, die man als Leser langsam aber sicher und vor allem schneller als Hanna miteinander verknüpfen konnte. Das Geheimnis in dieser Geschichte ist ein ziemlich spannendes, wurde allerdings durch Hannas Verhalten und ihre Weigerung zu Akzeptieren in die Länge gezogen. Die Auflösung selbst sehe ich auch zweigespalten: Einerseits wurde ich von der Autorin ordentlich an der Nase herumgeführt und sie konnte mich erfolgreich verwirren (gute Arbeit!), andererseits wird hier viel mit Klischees gespielt, die dem Ende seine Besonderheit nehmen.
"Chronik der Hagzissa" behandelt die Themen Hexen und Hexenverfolgung, Freundschaft, Liebe und Manipulationen und verknüpft diese auf eine überraschende und spannende Weise, manchmal leider durchbrochen von Längen oder Klischees. Ich empfehle dieses Buch allen, die in einer packenden Geschichte lesen wollen, wie die damalige Hexenverfolgung uns auch noch in der heutigen Zeit erreichen kann.
Ursprünglich war dieses Buch ein absoluter Coverkauf. Die Farben haben mich fasziniert und auch das Motiv an sich. Ganz schön creepy, diese gesichtslose Frau, vor allem, wenn sich herausstellt, dass es fast perfekt zur Geschichte passt. Wenn dann auch noch der Klappentext irgendwie interessant klingt, kann mich nichts mehr halten. Manchmal passiert das, muss ich ganz ehrlich gestehen. Was mich erwarten wird, wusste ich trotzdem nicht wirklich. Es klang zunächst erst mal nach Dystopie oder Apokalypse. Bevor ich meine englische Ausgabe dann tatsächlich gelesen habe, erschien auch die deutsche Übersetzung (und auch die vom zweiten Teil hust) mit dem Untertitel “Die letzten 12 Tage”, was den Eindruck der Apokalypsengeschichte nur verstärkt hat. Ein bisschen davon ist in der Geschichte auch vorhanden, doch eigentlich geht es um die Community, eine Gruppe von Familien, die auf einem abgelegenen, riesigen und abgeschotteten Grundstück wohnen und sich fast komplett selbst versorgen. Sie bereiten sich auf das Ende der Welt vor, das ihr Anführer Pioneer vorausgesagt hat. Für diese Art der Gemeinschaft fällt mir nur ein Begriff ein: Sekte. Obwohl sie selbst das natürlich abstreiten würden und sowieso alle Leute, die sie so nennen, abgrundtief böse sind.
Gated beginnt zu einer Zeit, da die Familien schon zehn Jahre in dieser Community leben, und begleitet den Alltag der jungen Frau Lyla. Es beginnt gleich mit einer ziemlich skurrilen Szene: Eine Gruppe von Jugendlichen übt den Umgang mit Gewehren, indem sie auf Holzpuppen schießen, und sollen auf Anweisung von Pioneer (zu Deutsch übrigens “Vorreiter”, “Bahnbrecher” und natürlich ist das ein selbst gewählter Name) gezielt Herz oder Kopf anvisieren. Lyla sieht bei diesem Übungen allerdings echte Menschen vor ihrem inneren Auge und bringt es nicht über sich, diese — wenn auch nur symbolisch — zu töten. Denn genau das ist natürlich auch das Ziel dieser Übung: Die Familien sollen desensibilisiert werden, damit sie sich im Falle eines Angriffs verteidigen können. Auf ihrem Gelände gibt es nämlich nicht nur die Häuser, Felder und Ställe, sondern auch ein Silo, in das sie kurz vor dem Ende der Welt einziehen können. Und da nur diese Familien die Auserwählten sind, wie Pioneer in seinen zahlreichen Visionen erfahren hat, muss dieses Silo mit allen Mitteln gegen die bösen Menschen von draußen verteidigt werden.
Alina Bronsky gehört zu den wenigen Autorinnen, von denen ich ungesehen jede Neuerscheinung sofort kaufe, und die mich deshalb schon viele Jahre lang begleitet. Dass mir ihre Bücher so sehr gefallen, liegt an den außergewöhnlichen Themen, die sie behandelt, und auch an der Art und dem Stil, wie sie ihre Figuren, deren Denken und Handeln erzählt. Nach der Katastrophe von Tschernobyl kehrt Baba Dunja wieder in ihr altes Dorf zurück. Sie wurde damals gezwungen es zu verlassen, hat es in der Stadt aber nicht lange ausgehalten. Sie ist eh schon alt, denkt sie sich, was soll das bisschen Strahlung denn noch ausrichten können? Andere Menschen erfahren aus der Zeitung oder dem Fernsehen, dass Baba Dunja wieder in Tschernowo wohnt, tun es ihr gleich und alte sowie neue Gesichter beleben das Dorf wieder. Das Wasser kommt aus dem Brunnen, Strom haben sie auch, eine Telefonleitung nicht. Sie können von Glück reden, dass der Bus an der zwei Stunden entfernten Haltestelle noch regelmäßig fährt, aber die Gärten werfen auch genügend Obst und Gemüse ab, solange man alles per Hand bestäubt. Die Bienen sind nämlich noch nicht zurückgekehrt.
Mit Baba Dunja erschuf Alina Bronsky eine sehr eigenwillige Frau. Sie redet mit ihrem toten Mann und dem toten Hahn ihrer Nachbarin Marja, freut sich über all die verstrahlten, aber frischen Sachen, die sie direkt aus ihrem Garten essen kann und ist mit ihrem Leben in Tschernowo absolut zufrieden. Mit ihrer Nachbarin Marja verbringt sie manchmal Zeit und zu Petrow bringt sie Reste ihres Essens, damit er nicht verhungert. Ansonsten ist man eher allein in diesem Dorf, genau deshalb sind ja überhaupt erst alle zurückgekehrt. Baba Dunja spricht hier im Präsens, spricht selbst, spricht als ich und kommentiert dabei mit fast unfreiwilligem Humor ihren Alltag, ihr Handeln und ihre Umgebung. Genau diese Form machte Baba Dunja für mich zu einem greifbaren Charakter, der mich immer wieder überrascht, amüsiert und nachdenklich gemacht hat. Zu meinem Lesevergnügen beigetragen hat auch noch die einmalige Atmosphäre in Tschernowo. Selbstverständlich sind Stimmung, Flair und Umgebung in diesem Dorf am Rande der Todeszone einzigartig und Alina Bronsky schafft es auch noch mit ihrem Stil — mal deutlich, mal metaphorisch oder peotisch — dies alles zum Leben zu erwecken.
Als ich zum ersten Mal dieses Büchlein in der Hand hatte, habe ich sofort den Umfang bemängelt. Mir war von Anfang an klar, dass ich mehr von dieser Geschichte lesen möchte als mickrige 150 Seiten. Nach dem Lesen hat sich dieser Eindruck nicht geändert, allerdings nicht nur wegen Baba Dunja oder der Atmosphäre. Viele Dinge hatten auf den wenigen Seiten einfach keinen Platz. Charakterentwicklung oder gehaltvolle Nebencharaktere, eine Handlung, die über den bloßen Alltag in Tschernowo hinausgeht. All dies wurde zwar angerissen, konnte aber nicht zufriedenstellend durchgeführt werden. So blieb die Veränderung durch die im Klappentext angekündigten Fremden im Dorf sehr kryptisch, ging nie über eine Andeutung hinaus. Weitere Bewohner des Dorfes konnte man zwar relativ schnell anhand ihrer eigenwilligen Verhaltensweisen erkennen, doch tiefer ging es auch bei ihnen nicht. Ein wichtiger Pol in Baba Dunjas Leben bilden ihre Tochter Irina und die Enkelin Laura, die sie aufgrund ihrer Rückkehr in die Todeszone zwar noch nie gesehen hat, aber dennoch herzlich liebt. Viele ihrer Gedanken kreisen um die beiden, man lernt sie zuerst durch Erinnerungen, Briefe und Pakete kennen, alles ein wenig romantisiert in Baba Dunjas Gedanken, später auch persönlich. Doch auch diese beiden Personen kommen über den angedeuteten Status nie hinaus. Vieles muss und soll man sich als Leser wahrscheinlich selbst zusammenreimen, doch wie überhaupt, wenn es so wenige Anhaltspunkte gibt?
In der Kürze liegt die Würze? Das trifft bei Baba Dunjas letzte Liebe leider nicht zu. Mehr Seiten und damit mehr Tiefgang hätten dieser Geschichte gutgetan, jedoch machen die einmalige Baba Dunja und die einzigartige Atmosphäre im Dorf mitten in der Tschernobyl-Todeszone so einiges wieder wett. Ich freue mich darüber, dass Baba Dunjas letzte Liebe es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2015 geschafft hat, und wünsche für den weiteren Verlauf viel Erfolg.
Eines muss ich gleich sagen: Wow. Das war mein erster Satz zum ersten Abschnitt in der Vorab-Leserunde zu Am Ende der Welt traf ich Noah und diese Aussage hat sich bis zum Ende hin nicht geändert. Irmgard Kramer entführte mich mit dem roten Koffer in die Villa Morris, zu Noah und seinen seltsamen Mitbewohnern, in eine Welt, in der man Wahrheit und Einbildung nicht scharf trennen kann, und lässt mich atemlos zurück.
Diese Geschichte beginnt an einem Sommertag, an dem sich die Protagonistin Marlene ganz furchtbar darüber ärgert, dass sie ihre beste Freundin nicht in den Urlaub begleiten darf, sondern von ihren Eltern ans Ende der Welt mitgeschleppt wird. Sie nutzt die erste Gelegenheit, um mal kurz auszubüxen und frische Luft zu schnappen, und läuft dabei ausgerechnet einem roten und herrenlosen Koffer über den Weg. Dieser übt eine ungeheure Faszination auf sie auf und kaum hat sie ihn sich geschnappt, hält plötzlich ein Auto neben ihr an. Der Fahrer freut sich sie endlich gefunden zu haben und bugsiert sie prompt ins Auto.
Marlene, verwirrt, aber auch aufgeregt, lässt dieses Missverständnis zu und begibt sich auf ein Abenteuer. Nun ist sie wirklich auf dem Weg ans Ende der Welt, wo sie die Villa Morris vorfindet. Noah wohnt dort, zusammen mit einer Nonne und weiteren Haushältern, die jemanden bestellt haben, um Noah das Schwimmen beizubringen. Nur mal gucken, nimmt Marlene sich vor, nur einen Tag, dann kann ich das Missverständnis aufklären.
Genau wie Marlene selbst werden auch die Leser mitten ins Geschehen geworfen, zum roten Koffer, und dann mitten ins surreale Abenteuer. Die ganze Reise, die Villa, Noahs Lebensweise scheinen direkt aus einem Traum zu kommen: Auf den ersten Blick ist alles wunderschön, auf den zweiten kann man gar nicht mehr genau sagen, ob das wirklich so passiert und was überhaupt dahinter stecken könnte. Am traumhaftesten ist hier wahrscheinlich Noah, von dem Marlene sofort fasziniert ist, obwohl er sich doch von Beginn an recht unhöflich zeigt. Manchmal allerdings, da entdeckt sie ganz zauberhafte Seiten an ihm.
Genau diese surreale und traumhafte Atmosphäre war es, die mich mitten ins Buch gezogen und nicht mehr losgelassen hat. Ich war genau dort, mit Marlene, genauso verwirrt, genauso wenig gewillt irgendeine Entscheidung zu treffen, die dieses Klima zerstören könnte. Die Atmosphäre ist allerdings nicht nur schön, sondern auch regelrecht seltsam. Man muss rätseln, was die da überhaupt in ihrer so abgelegenen Villa machen. Warum wohnt Noah mit einer Nonne zusammen, wo sind seine Eltern? Und was ist mit den Verschwörungstheorien, mit denen Noah Marlene vollends verwirrt? Was ist wahr und was ist nur Einbildung? All diese Fragen machen den Roman unglaublich spannend und mitreißend und die Autorin spielt wunderbar mit Hinweisen, die man hier und dort einordnen könnte, aber bloß nicht in die richtige Lücke im Puzzle. Dazu kommt noch eine ordentliche Portion Emotionen, eine erste Liebe, ganz herzig erzählt.
Und dann kommt das Ende, vollkommen überraschend und plötzlich, über das garantiert noch viel gesprochen werden wird, weil es polarisiert. Für mich war es, obwohl überraschend und wie ein kleiner Schlag in den Magen, stimmig und logisch. Die letzten paar Seiten des Buches habe ich nur noch mit offenem Mund gelesen, ich war sprachlos und konnte es nicht fassen. Doch es hat genau zu dem gepasst, was ich beim Lesen sowieso die ganze Zeit empfunden hatte: diesen Sog und diese Faszination.