1.221 Minuten, das sind mehr als 20 Stunden - so lange dauert dieses von Torben Kessler vorgetragene Hörbuch. Was sich vielleicht erst mal etwas abschreckend anhören mag, aber grundsätzlich dürfte es kein Problem sein, denn die Geschichte ist durchweg spannend, unterhaltsam und abwechslungsreich. Doch sollten keine längere Pausen dazwischen liegen, da stets zwischen verschiedenen Zeiten hin und her gesprungen wird. Mir fehlte dann ein bisschen die Orientierung, sodass ich wiederholt von vorne begonnen habe.
Marcus Goldman ist ein erfolgreicher Autor, zumindest nach seinem ersten Buch. Doch sein zweites Werk lässt auf sich warten, es fehlt ihm schlicht an Inspiration. Da erreicht ihn die Nachricht, dass im Garten seines verehrten Lehrers und Freund Harry Quebert das Skelett eines jungen Mädchens gefunden wurde, das vor 33 Jahren verschwand. Quebert soll der Mörder sein, der ein Verhältnis mit der erst 15jährigen Nola hatte. Marcus reist sofort nach Aurora, dem Ort des Verbrechens, und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit, denn er ist (als Einziger) von der Unschuld seines Freundes überzeugt. Dabei bringt er Dinge ans Tageslicht, die für immer vergessen sein sollten und bringt sich selbst in Gefahr.
Wie ich oben bereits erwähnte, ist die Handlung recht verschachtelt. Haupterzählstrang ist die Gegenwart im Jahre 2008, in der das Skelett der vermissten Nola gefunden wird. Marcus Goldman beschreibt als Ich-Erzähler detailliert seine Nachforschungen und erinnert sich dabei an die gemeinsame Zeit mit seinem Lehrer (um 1999 glaube ich), in der sie sich anfreundeten. Die Erkenntnisse, die er über die Zeit von Nolas Verschwinden gewinnt, Sommer 1975, werden wie eine eigenständige Erzählung berichtet, jeweils aus der Perspektive unterschiedlicher Personen. So entsteht auch eine Liebesgeschichte, nämlich die von Harry und Nola. Daneben gibt es Rückblicke in die noch frühere Vergangenheit, womit einzelne Figuren genauer beschrieben werden (Woher kommen Nolas Eltern? Wie kam Luther zu seiner Entstellung? usw.). Doch damit nicht genug ;-) Ein ebenfalls wichtiger Bestandteil dieses Romans dreht sich um die Schwierigkeit, ein gutes Buch zu schreiben, genauer: Marcus Goldmans Schwierigkeiten damit. So sind es mehrere Geschichten in einer, sodass bei mangelnder Aufmerksamkeit oder längeren Pausen beim Hören (beim Lesen weiß ich es nicht) mir schon mal der rote Faden abhanden kann.
Was dieses Buch auszeichnet, sind seine zahlreichen und vielfältigen Überraschungen. Irgendwie glaubt man zu wissen, in welche Richtung sich das Alles entwickelt - doch weit gefehlt. Nichts, absolut nichts ist so wie es scheint und eine Verblüffung folgte auf die nächste. Obwohl es eine Vielzahl von undurchsichtigen Zusammenhängen gibt, gelingt es dem Autor, wirklich alles ohne Unlogiken aufzulösen, sodass man vor Verwunderung und Erstaunen nur noch den Kopf schütteln kann. Selten habe ich bei einer Hörlektüre so häufig 'Das gibt es doch nicht' oder 'Das kann nicht wahr sein' vor mich hin gemurmelt.
Auch der Vorleser macht seine Sache sehr gut, denn es ist wohl keine Leichtigkeit, einen Roman mit mindestens zehn, eher mehr unterschiedlichen, häufig vorkommenden Personen so vorzutragen, dass man sich nicht völlig verliert. Obwohl er die Stimmlagen meist nicht allzu markant verändert, wusste ich doch immer gleich, wer gerade spricht. Torben Kessler, ein Name den ich mir für Hörbücher merken werde.
Fazit: Ein wirklich klasse Hörvergnügen für mehr als 20 Stunden.
Und noch ein Flüchtlingsbuch, allerdings aus einer Zeit, in der Flüchtlinge aus dem Osten noch eher selten waren. Es ist 1980, Ungarn hat eine autoritäre kommunistische Regierung, die durch die Sowjetunion gesteuert wird, wobei im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten Polen, Tschechoslowakei usw. in vielen Bereichen eine gewisse Liberalität Einzug gehalten hat. Doch Ungarinnen und Ungarn, die sich weigern, Mitglied der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei zu werden und/oder nicht mit deren Meinung übereinstimmen, haben es schwer in ihrem Leben. Sie und ihre Familien müssen sich mit schlechten Wohnverhältnissen zufriedengeben, werden im Berufsleben benachteiligt und laufen Gefahr, überall drangsaliert zu werden. Teréz und Károly halten dies nicht mehr aus, vor allem Teréz will dieses Land, das sie trotz allem liebt, mit ihrem Mann und den beiden Kindern verlassen. Im Sommer ist es soweit: Offiziell brechen sie zum Plattensee auf, um dort Ferien zu machen. Doch ihre Fahrt geht weiter: nach Jugoslawien, um von dort die Grenze nach Italien zu überqueren und weiter nach Deutschland zu fahren.
Für Jemanden, der sein Leben lang ein Heim hatte, ist es schwer nachvollziehbar, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein. Am Beispiel der Familie Kallay schildert Akos Doma überzeugend, welche Hoffnungen, aber auch wieviel Druck und und Angst dieser Exodus mit sich bringt. Die Freude auf ein Leben in Freiheit und ohne Bespitzelung; auf eine gerechte Behandlung ohne Furcht vor Wilkür. Aber auch die Last des untätigen Wartens auf die erlösenden Papiere; die zunehmende Besorgnis was werden soll, wenn die Papiere nicht kommen. Das Paar Kallay mag bemerkenswert naiv wirken in ihrem Glauben an das Gelingen ihrer Flucht, doch ihre jeweiligen Vergangenheiten, die als Erinnerungen oder Erzählungen immer wieder in die laufende Geschichte eingeschoben sind, machen klar, dass es keine Naivität ist, die sie so hoffnungsvoll sein lässt. Beide haben sich den Optimismus und die innere Überzeugung an das Gute im Menschen und im Leben bewahrt, sodass sie trotz ungeahnter Schwierigkeiten im gelobten Westen, weitermachen. Ungeachtet diverser Rückschläge und obwohl der Schluss des Buches das Ende der Reise offen lässt, bin ich mir sicher: Es wird gelingen; ihre Reise und ihr Ankommen in einem neuen Leben.
Ein schönes Buch, doch ein bisschen wundert es mich schon, dass es auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2015 zu finden ist. Aber da habe ich mich ja schon ein paar Mal gewundert ;-)
London um das Jahr 1850: Der 22jährige Lionel Savage ist ein Dichter, wie ihn sich unsereins zu jener Zeit wohl vorstellt. Adlig, völlig lebensunpraktisch, egozentrisch und den Kopf voller Gedanken, die mit der realen Welt so gut wie nichts zu tun haben. Als er feststellen muss, dass sein Vermögen gänzlich verbraucht ist, plant er reich zu heiraten. Gesagt, getan, die schöne, reiche Vivian wird seine Frau. Doch kurz nach der Hochzeit muss Lionel feststellen, dass er nicht mehr schreiben kann. Seine Kreativität ist versiegt. Voller Verzweiflung verflucht er seine Heirat bzw. seine Gemahlin (die der Grund dafür sein muss) und als während eines Maskenballes, den seine Frau veranstaltet, plötzlich der Teufel bei ihm auftaucht, klagt er diesem sein Leid. Unmittelbar nach dessen Besuch ist Vivian nicht mehr auffindbar und Lionels Kreativität beginnt wieder zu fließen, bis er zu seinem Entsetzen feststellen muss, dass ihm seine Gemahlin fehlt. Schlimmer noch: Er liebt sie heiß und innig. Doch wie soll er sie aus der Hölle holen, wo sie sich zweifelsohne befindet?
Kaum zu glauben, dass der Autor ein US-Amerikaner ist. Denn die komplette Geschichte wirkt so typisch britisch, dass ich mir fast sicher war, nur ein Einheimischer könne ein solches Buch schreiben. Im Stil einer Screwball-Komödie sind die Protagonisten ziemlich exzentrisch, aber dennoch liebenswert. Da gibt es Ashley, der Bruder Vivians, ein gutaussehender, muskelbepackter Abenteurer, der nur selten in England weilt, aber gerade jetzt zu Besuch kommt. Lizzie, die 16jährige, völlig unkonventionelle Schwester Lionels, vor der die Männerwelt erzittert. Und Simmons, der mustergültige Butler Lionels, der immer und sofort für Alles eine Lösung und Antwort parat hat. Lionel, der als Ich-Erzähler fungiert, erzählt die Erlebnisse mit einer (vermutlich) umfänglichen Ehrlichkeit und jugendlichen Naivität, sodass ich ihn trotz seiner Egozentrik einfach gernhaben musste.
Systematisch machen sich die Drei auf die Suche nach der Hölle, beginnen mit Kunst und Literatur, und einigen sich schließlich darauf, in Island mit einem Vulkan zu beginnen. Dorthin wollen sie mit der Hilfe eines Erfinders gelangen, der ein wundersames Fluggerät konstruiert hat und sich im Club Hefestaeum aufhält, einer wundersamen Lokalität: "Ich könnte mir vorstellen, dass hier vor langer Zeit einmal ein zweigeschossiges Haus stand; und dass dann ein ehrgeiziger, aber ungelernter Architekt entschieden hatte, einen Turm auf das Haus zu bauen; und dass einige Zeit danach ein weniger ehrgeiziger, aber gelernter Architekt den Turm in so etwas wie ein anständiges Gebäude umzuwandeln begann, aber vor der Fertigstellung verstarb und niemandem mitgeteilt hatte, wie es weitergehen sollte, und die Arbeit dann von einem geisteskranken Hafenarbeiter mit einem Hang zur Flasche fortgeführt wurde, woraufhin die Lage völlig außer Kontrolle geriet." Zudem unterliegt der Club einer besonderen Regelung der Feuerwehr: "Das Hefestaeum hatte so oft die Hilfe der Städtischen Feuerwehr bemüht, dass sich schließlich die Regierung einschaltete und ein Bußgeldsystem einführte. Dem Club wurden pro Jahr zwei Feuer zugestanden, deren Löschung die Feuerwehr unentgeltlich übernimmt. Jedes weitere Feuer zieht eine hohe Gebühr nach sich." Es gibt noch eine ganze Menge weiterer Verwicklungen und Gefahrensituationen (Duelle, Schießereien, Gefangennahmen), wobei Lionel völlig überrascht ein bisschen den Abenteurer in sich entdeckt.
Diese herrlich schrägen und liebenswerten Figuren bei ihren Erlebnissen zu begleiten, ist ein rundweg abwechlungsreiches und unterhaltsames Lesevergnügen.
Gleich vorweg: Wer Schwierigkeiten hat mit Brutalität, Ekligkeiten und Obszönität, sollte sich die Lektüre dieses Buches besser verkneifen. Denn was Franzobel, der Autor, hier schildert, ist schon harter Tobak, obwohl er vermutlich mit seiner literarischen Ausschmückung der tatsächlichen Geschehnisse nicht allzu sehr übertrieben hat.
Das Buch hält sich sehr eng an die tatsächlichen Geschehnisse, die sich im Jahre 1861 ereigneten. Am 17. Juni bricht ein Schiffsverband mit der Medusa als Flaggschiff von Frankreich aus auf, um in die Hauptstadt des Senegals zu segeln. Die Besatzung der Schiffe besteht aus mehr als 600 Menschen, darunter Ingenieure, Lehrer, Priester, Bauern, Arbeiter und Soldaten, die die französische Kolonie neu aufbauen sollen. Doch durch die Unfähigkeit des Kapitäns der Medusa läuft diese auf auf eine 40 Meilen von der Küste entfernt liegende Sandbank und zerbricht bei einem in der Nacht stattfindenden Unwetter. Das Schiff muss evakuiert werden, doch es gibt nicht genügend Rettungsboote, sodass 147 Menschen auf ein provisorisches Floß müssen, das von den anderen Booten gezogen wird. Doch man kommt nicht voran, weshalb die Verbindung gekappt und das Floß sich selbst überlassen wird.
Wider Erwarten nimmt die Geschichte der Schiffsbrüchigen auf dem Floß nur etwas mehr als ca. 1/3 des Buches ein, der Rest beschreibt die Fahrt des Schiffes bis zum Auflaufen auf die Sandbank. Franzobel hat einen besonderen Schreibstil, der zumindest zu Beginn für mich etwas gewöhnungsbedürftig war. Es gibt einen allwissenden Erzähler, der in unserer Zeit lebt und sich nicht scheut, Damaliges mit Heutigem zu vergleichen. So werden Offiziere mit Alain Delon und Lino Ventura verglichen und auch Kate Winslet und Leonardo di Caprio von der Titanic schaffen es in das Buch ;-) Ansonsten hält er sich überzeugend genau (so weit ich das beurteilen kann) an diverse Sprachgepflogenheiten der damaligen Zeit, insbesondere die der Seefahrt: Da werden Stengen und Rahen vertaut und mittels Taljen heruntergelassen, die Seeleute warpen, fieren und pullen was das Zeug hält. Auch die sonstigen Redeweisen wirken überzeugend und es dauert nicht lange, bis man sich mitten drin fühlt, als würde man neben dem Erzähler stehen.
Doch was dieses wirklich tolle Buch so schrecklich macht, sind die Menschen, über die hier erzählt wird. Es ist wohl ein Durchschnitt der damaligen Bevölkerung, der sich auf der Medusa versammelt. Scheinbar hochzivilisierte Aristokraten, die jedoch ebenso primitiv und ordinär sind wie dieser 'Abschaum der Gesellschaft', auf den sie mit einer Arroganz herabblicken, dass ich das Buch manchmal vor Wut in die Ecke hätte werfen können. Natürlich essen sie mit Silberbesteck, sind luxuriös gekleidet, aber bleiben völlig teilnahmslos, wenn ein Junge über Bord geht (Keine Zeit) oder ein Matrose totgepeitscht wird. Und schicken ohne zu zögern fast 147 Menschen in den Tod, um eine Guillotine zu retten und 'die höchsten Güter der Nation! Kleider!'. Dieses Verhalten empfand ich um Vieles schlimmer als das, was sich auf dem Floß ereignete, wo sich die Menschen in einer existentiellen Notlage befanden. Keine Frage, was dort geschah, war unvorstellbar entsetzlich. 'In jedem Mensch wohnt eine Bestie, ein zweites Ich, rücksichtslos, brutal und ohne Hemmungen.' (S. 376). Die Adligen brauchten aber noch nicht einmal eine Notlage, um diese Bestie zum Vorschein kommen zu lassen; sie fällt bei ihnen nur nicht so auf, denn sie hat bessere Manieren. Das wäre dann aber auch schon der einzige Unterschied.
So ist dieses Buch nicht nur ein Roman über eine historische Begebenheit, sondern auch ein Lehrstück über die Natur des Menschen. Grauenhaft gut.
Candice Fox kann's einfach - nämlich gute Thriller schreiben. Unkonventionelle Protagonisten, überraschende Wendungen und nicht zuletzt auch in Gesellschaftsfragen den Finger auf die Wunde legen - dies sind auch in ihrem neuen Buch 'Crimson Lake' feste Bestandteile.
Ted Conkaffey war Polizist, glücklich verheiratet und stolzer Vater, bis er zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war. Jetzt ist er in den Augen der Gesellschaft ein gefährlicher Pädophiler, verlassen von Frau und Freunden. Er soll ein 13jähriges Mädchen entführt, schwer misshandelt und vergewaltigt haben, doch die Indizien reichen nicht für eine Verurteilung, sodass er nach einem knappen Jahr Untersuchungshaft wieder frei kommt. Auf der Flucht vor einer sensationsgeilen Presse und einem wütenden Mob gelangt er nach Crimson Lake im Norden Australiens, in der Hoffnung dort zur Ruhe zu kommen. Bei der Aussenseiterin Amanda, einer verurteilten und ihre Haftstrafe bereits verbüßten Mörderin, findet er einen Job: Sie sollen einen berühmten Schriftsteller finden. Doch Conkaffey wird erkannt und Crimson Lakes Bürgerwehr formiert sich gegen den gefährlichen Eindringling.
Eigentlich sind es drei Fälle, die in diesem Buch erzählt werden. Der Erste ist die Suche nach dem Schriftsteller, der plötzlich verschwunden ist. Seine Ehefrau beauftragt Amanda, ihn bzw. seinen Mörder zu finden, damit sie im Falle seines Todes das Erbe antreten kann. Parallel dazu beschäftigt sich Conkaffey mit dem von Amanda vor vielen Jahren verübten Mord. Er hat seine Zweifel an den damals erlangten Ergebnissen, aufgrund derer Amanda verurteilt wurde. Und dann Conkaffeys eigener Fall, der ihn so belastet, dass er Angstzustände und Panikattacken erleidet. Immer wieder durchlebt er die demütigenden Situationen, derer er sich nicht erwehren konnte.
Doch damit nicht genug zeigt Candice Fox durch ihre beiden Protagonisten auch, wie Vorverurteilungen und Medienhetze in kürzester Zeit Menschenleben vernichten können. Durch Indizien, die zu Beweisen hochgepusht werden bzw. aufgrund einer fragwürdigen Herkunft, werden Menschen zum Freiwild für scheinbar besorgte Bürger, die in kürzester Zeit zum Lynchmob mutieren.
Ein klasse Krimithriller, der Lust macht auf den zweiten Teil!
Julius Reither, Ende 60, alleinstehend, hat seinen kleinen, eher erfolglosen Verlag und die dazugehörende Buchhandlung verkauft und sich in ein ruhiges schönes Tal nahe Österreich zurückgezogen. Eines Abends klopft es an seiner Tür - Leonie Palm steht davor, die ebenfalls in der Appartementanlage wohnt und um seine Mithilfe bei einem Literaturkreis bittet. Spontan aus dem Gespräch heraus entschließen sie sich mitten in der Nacht zu einem Ausflug, der sich zu einer Reise nach Sizilien entwickelt. Und zu einer Liebesgeschichte.
Doch das sind leider so ziemlich die einzigen Entwicklungen, die es in diesem Buch gibt. Der Protagonist ist ein überaus selbstmitleidiger Mensch mit pessimistischer Weltsicht und überheblichen Zügen. Auch seine Empathiefähigkeit ist sehr begrenzt: Oh ja, er setzt sich für Flüchtlinge ein, wenn diese drangsaliert werden und steckt ihnen Lebensmittel und Münzen zu. Doch sollen sie ihm bloß nicht zu nahe kommen und sein Leben stören. Selbst am Ende hatte ich den Eindruck, seine Handlungen resultieren mehr aus Pflichtgefühl als aus innnerer Überzeugung.
Natürlich kann auch eine unsympathische Hauptfigur das Thema eines guten Romanes sein, keine Frage. Doch die Sprache dieser 'Novelle' ist stellenweise so gekünstelt und gedrechselt, dass ich mich nur noch fragte: 'Was will der Autor mir damit sagen?' Inhaltlich vermutlich nichts, nur einen Beweis seiner grandiosen Ausdrucksfähigkeit vorlegen. Einige Beispiele: '... Liebesromanen, jeder Umschlag nur ein Leugnen, wie sehr das Begehren das Sein verbraucht ...'; ihm war auch das recht, alles, um von der Schneide des Augenblicks herunterzukommen ...'; Worte waren das wie herausgestemmt aus einem ganzen Packen ähnlicher Worte, einem Packen, der verklumpt, ...'. Es gibt auch wunderbare Sätze, die das Herausschreiben lohnen: 'Die Leute haben gespürt, dass ihre Gesichter zu leer waren für Hüte.'; '... das wahre Gebrechen, es sitzt in den Gedanken, nicht in den Knochen.'; Aber leider sind sie in der Unterzahl.
Es gibt einen Satz, der nicht nur das Wesen des Protagonisten darstellt, sondern auch sinnbildlich für das Buch steht: 'Das Lieben, das Vergehen darin, alles Schmelzen, er hatte es immer vermieden und dafür Bücher gemacht, die davon erzählten, jedes durch seinen Stift so verschlankt, so ausgedünnt, bis nichts mehr darin weich war, faulig, süß, nur noch Sätze wie gemeißelt, ohne die Klebrigkeiten, die Widerhaken der Liebe, all ihr Unsägliches.' Dumm nur, dass genau diese Eigenschaften das Wunderbare der Liebe ausmachen. Und auch ein gutes Buch ;-)
Agnes Magnúsdóttir war der letzte Mensch, der in Island 1830 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Vorgeworfen wurde ihr Mord an zwei Männern, gemeinsam verübt mit Fridrik, einem jungen Mann und seiner Verlobten Sigga. Nach ihrer Verurteilung wird Agnes auf den Hof eines Dienstmannes gebracht, wo sie bis zur Vollstreckung ihres Todesurteils in Haft bleiben soll. Von dieser Zeit erzählt 'Das Seelenhaus' und wer sich nun eine spannende, krimiähnliche Geschichte erhofft, dürfte enttäuscht werden.
Die Familie des Dienstmannes ist gegen die Unterbringung Agnes', hat aber keine Möglichkeit sich zu wehren. Sie dulden die Verurteilte und versuchen sie zu ignorieren, doch nach und nach entsteht zu einzelnen Familienmitgliedern ein Vertrauensverhältnis. Durch Gespräche mit dem Pfarrer, die die Totgeweihte führt, erfahren auch sie, welches Leben Agnes führte bis zu dem Mord an den zwei Männern.
Auch wenn dieses Verbrechen im Zentrum des Romanes steht: Schwerpunkt des Buches sind die Darstellung der Lebensverhältnisse und -bedingungen, die in Island zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschten. Dies gelingt zum Einen durch die Schilderung des Lebens der Familie, bei der Agnes untergebracht ist; zum Andern durch die Verurteilte selbst, die in einem wunderbar poetischen Ton erzählt bzw. sich erinnert, wie ihr Leben verlaufen ist. Für heutige Verhältnisse scheint es unvorstellbar, wie Menschen so existieren konnten: in Torfhäusern, undicht, ständig feucht, beengt, dunkel. Fensterrahmen waren zum Schutz und um für etwas Licht zu sorgen, mit Fisch- oder Schafsblasen verhängt. Die frühen und langen Winter waren ein steter Kampf ums Überleben. Agnes, die als uneheliches Kind zum untersten Rand der Gesellschaft gehörte, war als Magd (wie auch alle anderen Mägde und Knechte) kaum mehr als eine Leibeigene. Es war ein erbärmliches Leben in einer hartherzigen Zeit in einem gnadenlosen Land.
Ein wirklich beeindruckender Roman, der gekonnt Fiktion mit historischer Realität vermischt.
2005 bekam John Banville für dieses Buch den Man Booker Prize verliehen - völlig zu recht wie ich finde. Auch im Deutschen (dank der herausragenden Übersetzerin Christa Schuenke) fühlte ich mich beim Lesen, als ob ich an der Seite des Protagonisten wäre. Ich roch und schmeckte das Meer, den Herbst, den Sommer. Es gibt sicherlich nur wenige Bücher, in denen ich so unmittelbar am Erleben der Figuren teilgenommen habe wie hier.
Die Geschichte an sich ist eher unauffällig: Ein Mann, Max Morden, ein Kunsthistoriker in den Sechzigerin, verliert seine Frau durch eine Krankheit und fährt in seiner Trauer an einen Ort seiner Kindheit; dort, wo er die Ferien verbrachte. Hier erinnert er sich an längst und jüngst Vergangenes, an die Urlaube als Kind, die letzten Monate während der Krankheit seiner Frau, ihre erste gemeinsame Zeit. Alles fließt ineinander über und doch sind die verschiedenen Lebensabschnitte leicht voneinander zu unterscheiden. Fast wirkt es wie im Film, wenn durch geschickte Überblendungen der Wechsel in eine andere Zeitebene erfolgt - John Banville beherrscht diese Kunst grandios. Max' Erinnerungen, wiederholt ausgelöst durch Vergleiche mit der bildenden Kunst, nimmt er auch zum Anlass, sich Selbstreflektionen hinzugeben, die teilweise zu philosophischen Betrachtungen werden. Wann entsteht Bewusstsein? Das Bewusstsein seiner Selbst? Was ist Arbeit? Banville besitzt unter anderem nicht nur ein bewunderswertes Wissen über Kunst, sondern beispielsweise auch über Neurophilosophie, an dem er die Lesenden teilhaben lässt.
Doch über Allem steht dieser wunderbare Schreibstil, der exemplarisch zeigt, zu was Sprache fähig ist. "Sommerlicht, dick wie Honig ...", "Draußen gab es noch mehr Palmen, zerzauste, gakelige Dinger, deren graue Borke dick und zäh wie Elefantenhaut aussah." Banville ist ein unglaublich aufmerksamer Beobachter mit einem Blick für kleinste Details, die er in solch bildhafte Worte fasst, dass man wirklich Alles vor sich sieht.
Bemerkenswert empfand ich auch die Darstellung des Protagonisten. Max, der einen von Beginn an durch seine schon fast poetische Sprache praktisch völlig für sich einnimmt, sich jedoch entlarvt durch kleine Nebensätze als ein nicht gerade sympathisches Exemplar seiner Gattung. Amüsant empfand ich seine Abneigung gegenüber Männern, an denen er exakt das missbilligte, was er darstellte: das Vortäuschen einer Figur, die er nicht ist, was mir jedoch erst gegen Ende bewusst wurde.
Ein Buch, in dem so viel mehr steckt als nur die Geschichte eines trauernden Mannes. Ganz große Kunst!
2025, Deutschland lebt in Sicherheit und Wohlstand, es gibt das bedingungslose Grundeinkommen. Dass die regierende BBB (BesorgteBürgerBewegung)-Partei währenddessen den demokratischen Staat sukzessive zurückfährt, immer mehr Freiheitsrechte beschneidet und die Überwachung auch im Privaten praktisch lückenlos ist, scheint nur wenige zu stören. "Die Leute wurden gefragt, was sie tun würden, wenn sie sich zwischen dem Wahlrecht und ihrer Waschmaschine entscheiden müssten. ... 67% wählten die Waschmaschine. 15% waren unentschieden."
Britta Söldner (!) hat sich in dieser Welt eingerichtet und mit einem Freund und Partner ein perfides Geschäft aufgebaut, mit dem sich gutes Geld verdienen lässt. Doch sie bekommen Konkurrenz und bald schon scheinen sie verfolgt zu werden.
Es ist ein düsteres Bild, was Juli Zeh in diesem Buch entwirft. Und erschreckenderweise nicht sooo weit entfernt von unserer Welt. 'Wehret den Anfängen' soll uns wohl deutlich gemacht werden - doch das leider in einer Intensität, dass es anfing mir auf die Nerven zu gehen. Ja, mir ist bewusst, dass das Wahlrecht ein wichtiges ist; dass Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte auf allen Ebenen relevant sind für unser Zusammenleben, auch wenn sie umständlich und zeitraubend wirken und manchmal vielleicht sogar sind; dass es etwas geben muss FÜR das man lebt - und dass das nächste Shoppingerlebnis bestimmt nicht dafür ausreicht; dass Überzeugungen, Prinzipien, Standpunkte überholt klingen mögen (kann man sich doch nix für kaufen) - aber ob 1.587 Likes ausreichen, um dem Leben einen Sinn zu geben? Auch wenn Frau Zehs Anliegen mehr als gerechtfertigt ist, hat mich 'Leere Herzen' nicht überzeugt. Den erinnernden Zeigefinger sah ich ständig im Hintergrund und die Figuren waren (was sie wohl auch sein sollten) weitestgehend gleichgültig - was sich dann aber bedauerlicherweise auch auf die Geschichte auswirkte (hach, wenn ich da an 'Unterleuten' zurückdenke; was für ein Buch!). Zudem blieben diverse Fragen offen: Was machte beispielsweise Hatz anschließend? Und die Beteiligung? Wo kam die eigentlich her?
So bleibt es trotz der eigentlich guten Idee bei einem durchschnittlichen Krimi in einer nahen Zukunft, wie sie uns hoffentlich erspart bleiben wird. Ob dieses Buch dann mit dazubeigetragen haben wird, wage ich allerdings zu bezweifeln ;-)
Weihnachten mal ganz anders: Anstelle des lieben Weihnachtsmannes der allen Menschen eine Freude macht, taucht in diesem Jahr eine Art Anti-Weihnachtsmann auf. Statt friedlicher Stimmung und schöner Geschenke bringt er gnadenlose Wahrheiten, überschreitet rücksichtslos alle Grenzen von Anstand und gutem Benehmen und erfüllt Wünsche, die besser vergessen bzw. nie ausgesprochen worden wären. Die Geschichte macht Spass, wenn sie auch gelegentlich einige Längen hat.
Die etwas schräge Stimme des Vorlesers Gustav-Peter Wöhler passt gut zu dieser Erzählung mit den recht skurrilen Figuren, auch wenn sie nicht alle gleich gut rüberkommen.
Alles in allem eine amüsante Weihnachtsgeschichte, die garantiert keine Friede-Freude-Eierkuchen-Unterhaltung liefert.
Lila und Lenu, die Ich-Erzählerin, sind nun beide in den Dreißigern und treffen sich im Rione wieder, dem Ort ihrer Kindheit. Lila hat sich gemeinsam mit Enzo, einem Freund ihrer Kindheitstage, ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut, während Lenu nach ihrem Studium eine erfolgreiche Autorin wurde. Für ihre große Jugendliebe Nino hat sie ihren Mann verlassen und ist gemeinsam mit ihren beiden Töchtern zurück nach Neapel gezogen. Noch immer verbindet die beiden Frauen ihre Freundschaft aus Kindertagen und als sie zeitgleich schwanger sind, kommen sie sich fast so nahe wie früher. Doch das Leben Beider erfährt jeweils eine dramatische Wendung, die Alles verändert.
So, wie sich die beiden Protagonistinnen im Laufe der Zeit verändern, wandelt sich auch der Stil des Buches. Während in den vorhergehenden Bänden das 'Außenleben' eine wichtige Rolle spielte, sind es nunmehr die Reflexionen der Ich-Erzählerin über sich selbst und ihre Freundin Lila, die überdies zunehmend komplexer werden. Obwohl Lenu mittlerweile gebildet und erfolgreich ist und Lila gerade einmal die fünfte Klasse Grundschule abgeschlossen hat, verspürt Lenu noch immer Minderwertigkeitskomplexe gegenüber ihrer Freundin. Doch man spürt auch, welchen Einfluss der Rione, ihre neue alte Heimat, auf sie hat. Noch immer ist es ein Ort der Gewalt und der Unterdrückung, obendrein ist mit dem Drogenhandel ein neues Geschäftsfeld aufgetaucht. Die gebildete, erfolgreiche Autorin realisiert, dass ihr diese Welt fremd geworden, während ihre Freundin, die den Rione nie verlassen hat, noch immer ein Teil davon ist. Zunehmend fühlt sich Lenu von Lila manipuliert und benutzt, damit diese ihre eigenen Interessen durchsetzt.
Beim Lesen war ich immer wieder auf's Neue hin- und hergerissen: Ist Lila tatsächlich so ein Biest, wie Lenu sie gelegentlich beschreibt? Oder ist sie nicht vielmehr eine Art Lichtgestalt, einer der wenigen Menschen, die ihre Werte und Überzeugungen auch dann vertreten, wenn sie ihnen zum Nachteil gereichen? Jemand, die sich der Konsequenz ihrer (eventuellen) Handlungen bewusst ist und entsprechend verstandesmäßig entscheidet? Ihren Verstand stets über ihre Gefühle stellt? Und Lenu nur aufgrund ihrer Komplexe Lila alles Mögliche unterstellt? Ich bin mir sicher, diese vier Bände werden künftigen GermanistikstudentInnen eine Menge Material für Interpretationen und Erörterungen bieten ;-)
Ich habe die Figuren dieser Neapel-Saga während des Lesens der vier Bände lieb gewonnen und hatte das Gefühl, mich tatsächlich im Rione ein bisschen auszukennen. Vielleicht sollte ich nun, nachdem ich von dort nichts mehr zu Lesen bekomme, mal selber nach Neapel fahren ;-)
Walter Nowak, 68 Jahre, ist ein Mann der Tat. Um etwas zu erreichen, muss man arbeiten - und das macht er mit Erfolg. In weniger als 10 Jahren vom Lehrling zum Chef - da bleibt keine Zeit für Schnickschnack wie Schwäche oder Gefühle. Doch als er bei seiner täglichen 1000-Meter -Schwimmrunde im Freibad mit dem Kopf gegen die Beckenwand knallt, verliert er zum ersten Mal die Kontrolle über sich. Es gelingt ihm noch heimzufahren, doch dann bleibt er regungslos im Bad liegen. Niemand ist da, um ihm zu helfen und er verliert sich in Erinnerungen, Selbstreflexionen, Träume.
Vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben ist er völlig hilflos und muss nun seinen Gefühlen und Schwächen freien Lauf lassen, die er sein ganzes Leben wohl weitestgehend erfolgreich unterdrückt hat. Erinnerungen überfluten ihn, an seine Kindheit als Bastard, seine erste Ehefrau, seine zweite Ehefrau, sein Sohn - und nach und nach wird klar, dass er trotz seines beruflichen Erfolges ein trauriger, einsamer Mann ist.
Das Buch besteht ausschließlich aus dem Gedankenfluß Werner Nowaks, was durchaus gewöhnungsbedürftig ist. Viele Sätze werden nur angerissen und Walter springt mit seinen Gedanken nicht nur im Thema, sondern auch in den Zeiten. Doch spätestens nach fünf bis 10 Seiten war ich so gefesselt von Walters Innenleben, dass ich das Buch fast in einem Rutsch durchlas (wer es bis dahin immer noch öde finden sollte, sollte besser aufhören zu lesen. Denn dieser Stil bleibt bis zum Ende). Julia Wolf schildert die Gedankengänge dieses alternden Mannes so überzeugend, als habe sie tatsächlich in seinem Kopf gesteckt. Und ich habe mich beim Lesen immer wieder gefragt, wie ihr das gelungen ist. Wer dieses Buch gelesen hat, wird einen bestimmten Männertyp künftig mit anderen Augen betrachten - zumindest mir wird es mit großer Wahrscheinlichkeit so gehen :-)
Als Lutherroman wird dieses Buch angekündigt, aber wer nun erwartungsvoll darauf hofft, mehr über das Leben und Wirken des Reformators zu erfahren, wird mit dieser Lektüre sicher nicht glücklich. Wer hingegen ein Sprachabenteuer erleben möchte, sollte zugreifen ;-)
Erzählt wird von einer eher kleinen Zeitspanne: Nachdem Luther auf dem Wormser Reichstag für vogelfrei erklärt wurde, findet er auf der Wartburg im Mai 1521 Zuflucht. Von dieser ersten Zeit, bis er begann, das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche zu übersetzen, erzählt der Landsknecht Burkhard, Katholik, der Luther im Auftrag des Kurfürsten von Sachsen beschützen soll.
Zaimoglu hat dafür eine eigene Sprache erfunden, wobei er offenbar versuchte, dem Idiom der damaligen Zeit möglichst nahe zu kommen. Ich habe keine Ahnung, ob bzw. wie gut ihm das gelungen ist - in jedem Fall ist es etwas Außergewöhnliches, wenn auch nicht unbedingt ein Genuss. Die Menschen äußern sich vulgär, derb, brutal und so grobschlächtig, dass mir manchmal fast die Lust am Lesen verging. Erschwerend kommt hinzu, dass es jede Menge Ausdrücke gibt, die vermutlich dem Erfindungsreichtum des Autoren zu verdanken sind. Ein Beispiel: "Junker Georgen, Mönch ohne Kutte, gebannt auf die Felsenfeste Warte, ist ein stößiger Stier, er wütet in der ersten Hitze. Meister Martinus speit aus den bösen Geist in prasselnden Stücken. Sein Maul fließt über, denn das Evangelium sticht ihn." Keine Frage, es ist beeindruckend wie dieser Stil konsequent von Anfang bis Ende fortgeführt wird, aber ein richtiges Lesevergnügen stellte sich bei mir nicht ein.
Was vielleicht auch an dem Fehlen einer guten und spannenden Geschichte liegt. Burkhard beschreibt neben Luthers Ringen mit seinen inneren Dämonen das Umfeld der Wartburg; die Menschen, wie sie leben, leiden und lieben. So ist das Buch mehr ein mittelalterliches Gesellschaftspanorama als ein Roman über den Reformator.
Wem Sprache wichtiger ist als eine Geschichte, wer sich für Sprachexperimente begeistern kann, wird an diesem Buch seine Freude haben. Die Anderen sollten vorher besser einen Textauszug lesen, um keine Enttäuschung zu erleben.
Jarvis' Ehemann Martin, ein berühmter Maler, ist sechs Jahre zuvor nach einem Unfall ins Koma gefallen; seitdem besteht ihr Leben aus der Trauer um ihren Mann. Als sie sich eines Tages aufgrund ihrer defekten Waschmaschine in einen Waschsalon aufmacht, lernt sie drei Männer kennen, alle verheiratet, die ihr Leben völlig durcheinanderbringen.
Der Titel, der Klappentext und wohl auch meine kurze Inhaltsangabe lassen vermutlich erst mal auf eine eher unterhaltsame, kurzweilige Lektüre schließen, was dem Buch aber ganz bestimmt nicht gerecht werden würde. Es geht (unter anderem) um nicht mehr oder weniger als die Frage: Wer bin ich? Die Protagonistin ist (noch immer) eine junge Frau, die sich aufgrund ihrer Vergangenheit so sehr nach Liebe sehnte, dass sie ihre eigene Persönlichkeit in der Beziehung zu Martin fast völlig aufgab - vielleicht war ihr bis dahin aber auch noch nicht klar, wer sie selbst überhaupt war. Die Begegnung mit den drei Männern, mit denen sie sich anfreundet, gibt ihr Selbstvertrauen und sie beginnt ihr bisheriges Leben zu reflektieren, ohne etwas zu beschönigen. Sie erkennt, dass sie selbst initiativ werden muss, um ihr eigenes Leben zu leben und entdeckt dabei Geheimnisse, die ihre Ehe in einem ganz anderen Licht zeigen.
Die große Stärke der Autorin sind ihre präzisen, bildhaften Beschreibungen, die häufig in lange Sätze münden, von denen man aber (meistens) kein Wort missen möchte. "Bis ich Martin kennenlernte. Dessen ganzes Leben, jedes Quäntchen davon, jeder Atemzug, jeder Gedanke, dem Kunstschaffen gewidmet war. ... Er ließ mich ein, ein Eckchen, ein Fetzen heißer Haut, er hob ihn an, zeigte mir, was darunter war, wie bei diesen menschlichen Körperskulpturen, die sie im Anatomieunterricht hatten, nur dass Martin innen aus Farbe bestand und Struktur und Augen und Lippen und Nase, alles in einem riesigen Meer." "Mein Vater siecht auf Rhode Island dahin und betrauert meine Mutter durch den Boden einer Bierflasche."
Es ist eine Geschichte um Trauer, Liebe, Freundschaft und wie man dabei vor lauter Gefühlen dennoch seine eigene Persönlichkeit bewahrt. Jarvis wäre dies beinahe nicht gelungen und wer weiß, vielleicht hätte sie es an der Seite ihres erfolgreichen Mannes auch nicht bemerkt.
Ein schönes, immer wieder auch nachdenklich machendes Buch, manchmal aufgrund der häufigen Zeitsprünge nicht ganz einfach zu lesen.
Als begeisterter Harry-Hole-Fan wird es natürlich schwierig, eine wirklich objektive Kritik zu schreiben - aber ich versuche mein Bestes ;-)
Wie schon im vorherigen Band Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi, Band 10) geht es Harry Hole erstaunlicherweise noch immer gut: glücklich verheiratet mit Rakel, seiner großen Liebe; seine Aufgabe als Dozent an der Polizeihochschule macht ihm noch immer Freude und seine frühere Ermittlungsarbeit fehlt ihm nicht im Geringsten. Doch als in Oslo zwei Frauen umgebracht werden, deren Blut der Täter offenbar getrunken hat, setzt ihn Mikael Bellmann, der Polizeipräsident und Intimfeind Harrys, unter Druck, damit er in diesen Fällen ermittelt. Denn der Täter ist offenbar kein Unbekannter ...
Wer noch keinen Harry-Hole-Krimi gelesen und die Befürchtung hat, es könnte das Lesevergnügen vermindern, nun beim 11. Band direkt einzusteigen, kann beruhigt sein. Zwar gibt es immer wieder Hinweise auf die Vergangenheit, aber zum Verständnis dieses Thriller sind die vorhergehenden Bände nicht nötig. Also nur ran an die über 600 Seiten ;-)
Es ist praktisch von Beginn an klar, wer der Täter ist - zumindest soll man das glauben. Die Jagd nach ihm umfasst mehr als drei Viertel des Buches und ist durchweg spannend. Immer wieder gibt es kleine Hinweise, dass mehr dahinter stecken könnte als auf den ersten Blick zu erkennen ist, doch erst im dritten Teil wird dies wirklich deutlich. Obwohl Jo Nesbø 'nur' wieder seine altbekannten Schachzüge einsetzt wie zwei Handlungen unmittelbar aufeinanderprallen zu lassen, die sich jedoch an völlig unterschiedlichen Orten abspielen; oder Sachverhalte ohne Namensnennung zu beschreiben, sodass man fast sicher ist, es kann sich nur um die und die Person handeln - tut es aber nicht. Obwohl die Technik also bekannt ist (ich habe alle Harry-Hole-Bände gelesen), bin ich beinahe stets auf's Neue diesen Irreführungen erlegen, was die Spannung natürlich beträchtlich erhöhte. Wirklich bis zum Schluss werden diese Verwirrspiele durchgehalten und führen zu einer Auflösung, die im Gegensatz zu den vorhergehenden Fällen jedoch nur an einem Indiz festzumachen war. Dieses Mal habe ich mir also nichts vorzuwerfen im Sinne von 'Das hättest Du doch erkennen können' ;-)
Eine kleine Mäkelei habe ich aber dennoch: Natürlich werden auch hier Personen als mögliche Verdächtige aufgebaut, um die Lesenden in die Irre zu leiten. Das geschah aber dieses Mal bei Zweien derart plump, dass sofort klar war: Die können es nicht sein. Ich kann mich erinnern, das ging auch schon besser ;-)
Dennoch ist es wieder ein richtig toller Harry-Hole-Fall, der viel zu schnell durchgelesen war.