Adib und Karl, zwei Menschen, die auf der Flucht waren. Der eine ist gerade erst in Berlin angekommen, der andere ist schon viele Jahre da. Karl wurde als Fünfzehnjähriger nach dem zweiten Weltkrieg mit seiner Mutter und Schwester aus Schlesien vertrieben und Adibs Familie musste Afghanistan verlassen, weil sie von den Taliban verfolgt werden. Die beiden verbindet auf der einen Seite überhaupt nichts, auf der anderen einfach alles. In Berlin laufen sie sich zufällig über den Weg und werden Freunde.
Daniel Höra erzählt in "Das Schicksal der Sterne" den gegenwärtigen Alltag von Adib und Karl in Berlin, aber in Rückblicken auch die Flucht der beiden. Beide werden monatelang weiter gescheucht, müssen hungern, Schmerzen leiden und bei widrigsten Bedingungen die Tage überstehen. Die Zeit auf der Flucht wird bei beiden Perspektiven eindringlich und bedrückend erzählt, sodass ich bei jedem Satz mitfühlen konnte — "leider" mitfühlen, müsste ich fast sagen, denn es war schwere Kost und doch so wichtige Kost.
In Berlin lernen die beiden sich kennen, weil Adib im Park ein Buch findet, in dem Karls Name und Adresse stehen. Er hat es dort verloren, als er einen Schlaganfall hatte. Nach seiner Genesung sucht er Adib auf, um sich bei ihm zu bedanken, und sie entdecken neben der Flucht eine weitere Gemeinsamkeit: Sie interessieren sich beide für Astronomie. Und so beginnt eine zaghafte Freundschaft. Besonders in diesem Zeitstrang werden wichtige aktuelle Themen wie Fremdenhass und Vorurteile behandelt. Adib darf mittlerweile in Berlin zur Schule gehen, dies wird allerdings nicht von allen neuen Klassenkameraden gern gesehen. Auch andere Menschen um ihn herum sind eher misstrauisch, während anderen nicht mal einfällt, warum Adib anders sein sollte.
Insgesamt wird in diesem Buch gern mit überspitzten Klischees gearbeitet. Viel Schreckliches, das Adib und Karl während der Flucht und auch danach passieren kann, passiert ihnen auch, oft zugefügt von Personen mit extremen Haltungen. Aber auch vermeintlich kleine Dinge wie Alltagsrassismus werden behandelt. Einige Male wirkt dies übertrieben, erfüllt aber den Zweck und zeigt, dass diese Dinge existieren und angesprochen werden müssen. Das Wenigste wird dabei ausführlich kommentiert — show, don’t tell ist hier die Devise, weshalb es hier auch keinen erhobenen Zeigefinger gibt — und deshalb müssen Leser_innen selbst interpretieren. Mit einem gesunden Menschenverstand funktioniert das prima. Das Buch ist laut Verlag für Leser*innen ab 14 Jahren, für mein Empfinden ist es für jedes Alter geeignet und lesenswert, jung wie alt. Eltern könnten es mit ihren Kindern vielleicht zusammen lesen und dabei wichtige Aussagen gemeinsam besprechen.
Adib und Karl erzählen in "Das Schicksal der Sterne" wichtige Geschichten. Mal mitreißend, mal bedrückend, mal schrullig, mal hoffnungsvoll. Ein mitfühlendes Buch.
Das verrückteste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe, ist sehr wahrscheinlich dieses hier. "Erasmus Emmerich und die Maskerade der Madame Mallarmé" ist bereits so ein wunderbar klangvoller Name. Ich kannte schon die erste Kurzgeschichte mit Erasmus Emmerich und eine weitere Geschichte mit einem anderen, nicht minder verrückten und kreativen Protagonisten aus der Feder von Katharina Fiona Bode. Umso toller ist es also, dass es ihre kreativen Ideen nun auch in Romanlänge gibt. Seitenweise Wortwitz, skurrile Erfindungen und liebenswürdige Dialoge und Neckereien, wie habe ich mich darauf gefreut! Kleines Fazit vorweg: Selbst die Romanlänge war noch viel zu kurz und viel zu schnell vorbei.
Erasmus Emmerich, äußerst erfolgreicher Detektiv und Erfinder, bekommt einen neuen Auftrag: In Berlin wird jeden Tag eine neue Trollleiche gefunden, da soll er doch mal schauen. Hängt das vielleicht mit dem alten Bekannten namens Villard zusammen? Oder ist es was ganz anderes? Niemand, vor allem nicht die Polizei, hat auch nur die geringste Ahnung und währenddessen taucht die verschleierte Witwe Madame Mallarmé auf. Mit den stümperhaftesten, aber auch genial erfolgreichen Methoden lenkt sie den Verdacht auf Emmerichs Partnerin Marie, die Qualmfee, die sich nun damit beschäftigen muss, ihre eigene Unschuld zu beweisen.
Vor dem eigentlichen Roman sind die beiden Kurzgeschichten um Erasmus Emmerich, die bereits in Anthologien erschienen sind, abgedruckt. Ich empfehle auch diese zu lesen, weil sie erstens eine Menge Spaß bereiten und zweitens Figuren einführen, die im Roman wieder auftauchen werden. Allen voran zum Beispiel der absolut liebenswürdige Zinbi — Entschuldigung, Zinoberius der Dritte, ein zinnoberroter Zinnsoldat aus der zweiten Kurzgeschichte. Der wohnt nun bei Erasmus und Marie und die drei sind ein himmlisches Team. Ein sich neckendes Team. Ein Team, das sich mit kommunikativen Missverständnissen perfekt ergänzt und solch hoffnungslose Fälle wie die der Trollleichen in jedem Fall lösen können. Ich habe dieses Team geliebt. Ge. liebt.! Wie sie miteinander sprechen, miteinander umgehen, sich (übereinander) ärgern, sich vermissen und necken und helfen. Und das alles zusätzlich garniert mit einer Menge, nein, einer Unmenge an Wortwitz, literarischen Anspielungen und Charme. Katharina Fiona Bode kann Worte und Wortbedeutungen auf eine Weise formen, die mich das Buch mit einem offenen Mund hat lesen lassen. Weil ich es nicht fassen konnte, wie man auf solche Wort(neu)schöpfungen und Erfindungen kommen kann. Und das immer und immer wieder. Kleines Beispiel gefällig?
"Zinoberius hüpfte in eine gepunktet und behenkelte Porzellankabine seines surrenden Tassen-Paternosters, so dass nur noch das halbe Tee-Ei von Kopfbedeckung herauslugste, und ließ sich abwärts tragen. [… 2 Seiten später] »Ich höre was!«, rief Zinoberius aus und stürmte zur nächstaufsteigenden Tasse seines Tassternosters." (S. 58-60)
Es sind die Kleinigkeiten und immer wiederkehrenden liebenswürdigen Details, die dieses Buch für mich so besonders gemacht haben. Und dabei war immer auch dieser einmalige Wortwitz dabei. Davon möchte ich bitte noch ganz viel mehr haben und erwarte jetzt schon mit Sehnsucht die weiteren Bände.
"Omni" ist das vierte Buch von Andreas Brandhorst, das ich direkt nach Erscheinen gelesen habe. Das ist an sich auch schon eine Aussage. Die Zukunftsvisionen, die der Autor mir in seinen Büchern lebhaft präsentiert, gefallen mir. Nicht unbedingt, weil ich mir wünsche, dass es für die Menschheit so eintritt, sondern weil mir die Eindringlichkeit und die Detailfülle gefallen, mit denen Andreas Brandhorst diese Bilder heraufbeschwört. In "Omni" sind es diesmal nicht die künstlichen Intelligenzen, die die Herrschaft über das Weltall an sich gerissen haben (wie es noch in "Das Schiff" war), sondern Superzivilisationen, die sich zu "Omni" zusammengeschlossen und einen höheren Entwicklungsstand als die Menschen oder ähnliche Spezies haben.
Forrester und Zinnober sind Vater und Tochter, die sich vor kurzem erst gefunden haben und nun gezwungen sind, einen Auftrag der "Agentur" auszuführen. Sie sollen den Zehntausendjährigen Aurelius entführen, da dieser einer von sechs Menschen ist, die Zugang und Kontakt zu Omni haben, und die Agentur das offenbar ausnutzen möchte. Welche Motive sich genau dahinter verbergen, ist zunächst unklar, und Zinnober und Forrester machen sich nur widerwillig auf den Weg. Dieser ist immerhin sehr rasant, viel rasanter als vielleicht gewünscht.
Wie es für ein Weltall aus Brandhorsts Feder üblich ist, führt uns diese Reise durch eine Fülle von Planeten und Sonnensystemen. Dabei begegnen wir verschiedenen Spezies mit unterschiedlichen Entwicklungsstufen und interessanten Kulturen. Forrester und Zinnober haben natürlich gewisse Pläne, wie sie den Auftrag ausführen könnte, aber was wäre das denn für ein Spannungsbogen, wenn es immer genau so klappen würde? So einiges geht natürlich schief, mit den ein oder anderen Konsequenzen, doch die beiden sind anpassungsfähig. Bis zu einem bestimmten Grad? Hilfe bei ihrer Aufgabe bekommen sie unter anderem von ihrer Schiffsintelligenz Cassandra, deren Darstellung mir besonders gefallen hat. Nicht nur Forrester und Zinnober entwickeln sich weiter, sondern auch diese Stimme des Schiffes, die immer anwesend ist. Im Laufe des Buches wachsen die drei immer mehr zu einem Team zusammen, das den Auftrag gemeinsam erfüllt und aufeinander aufpasst. Insgesamt wird also neben dem spannenden Auftrag also auch noch viel Wert auf Charakterentwicklung und ihre Beziehungen zueinander gelegt, sowohl auf die Vater-Tochter-Beziehung als auch die Beziehung der beiden zu Cassandra.
"Lichter glühten und schimmerten in ihnen, wie die Funken in den Säulen des Schiffes, das gar kein richtiges Schiff war, und wo sie sich trafen, ertönten Millionen von Stimmen — Aurelius hörte sie als dumpfes Rauschen in der Ferne. Über den Türmen und dem oberen Netz, wo die Inper miteinander sprachen und Datenchöre sangen, schwebten und rotierten mit den Kontinua verbundene orbitale Städte." (S. 370)
In "Omni" werden Technologien, Umgebungen und Kulturen wie gewohnt detailreich und auch mit vielen Fremdwörtern beschrieben. Diese werden oft wie selbstverständlich benutzt und sind durch den Kontext einfach zuzuordnen. Für Unsicherheiten gibt es allerdings wie immer ein umfangreiches Glossar und zusätzlich eine Chronologie, was auf der Erde und im Weltall geschehen ist, bis es zu der aktuellen Situation kam. Die Geschichte selbst wird aus verschiedenen Sichtweisen erzählt — auf der einen Seite erleben wir die Reise von Forrester und Zinnober, auf der anderen den Weg des Zehntausendjährigen Aurelius, zusätzlich gibt es Einblicke in die Gedankengänge einiger Gegenspieler. Dies bringt noch mal mehr Abwechslung in das Buch, weil all diese Charaktere individuell und unvorhersehbar sind; besonders Aurelius, den ich bis zum Schluss schwer einschätzen konnte, diesen genialen Kerl. Es lohnt sich, "Omni" zu lesen. Für Leser*innen, die sowieso schon gern Science Fiction lesen, sowieso; für alle anderen auch. Traut euch. Es ist spannend und öffnet im wahrsten Sinne des Ausdrucks neue Welten.
Diese Rezension wird schwierig, weil das Buch zu wundervoll war.