Der Kreidemann
384 Seiten

Wow, für ein Erstlingswerk ist dieses Buch ziemlich gelungen. Kein platter Thriller, bei dem ein Serienmörder ein Opfer nach dem anderen niedermetzelt, sondern eine sich langsam entwickelnde Geschichte, die neben einer Reihe von Spannungsmomenten durchaus auch fast schon horrormäßige Elemente aufzuweisen hat.
Eddie ist ein 42jähriger Englischlehrer, der sein trostloses Dasein viel zu häufig mit Alkohol zu bekämpfen versucht. Einziger Lichtblick ist seine erst seit kurzem bei ihm wohnende, deutlich jüngere Untermieterin Chloe. Als er eines Tages einen Brief mit gezeichneten Kreidemännchen bekommt, muss er sich zwangsläufig mit der Vergangenheit auseinandersetzen, in der es zu grauenhaften Unglücken kam und am Ende gar zu einem Mord. Der Mörder schien gefasst, doch der Brief deutet auf etwas Anderes hin.
Erzählt wird in zwei Handlungssträngen, die sich abwechseln: Die Gegenwart, als Eddie den Brief erhält und 30 Jahre zuvor, als das Unheil begann. Während Ersterer (natürlich) auf die Lösung des Falles zusteuert, schildert der Zweite die Geschichte von Eddie und seinen Freunden, deren unbeschwerte Kindheit in diesem Jahr zu Ende ging. Es ist ein komplexes Geflecht einer Kleinstadt, in der Fanatismus ebenso wie Verrohung Fuß fassten und Gerüchte als Beweise ausreichten. Ich war mir sicher, dass das Alles EINEN Ursprung haben musste, aber wie steht es in diesem Buch: "Nichts als gegeben annehmen. Alles in Zweifel ziehen. Immer hinter das Offensichtliche blicken."
Ich fand das Buch durchweg spannend und durchaus *****würdig, wenn nicht dieses Ende gewesen wäre. Von der subtilen Gruselatmosphäre ist nichts mehr zu spüren, statt dessen wird es zum Splattermovieverschnitt. Schade darum, aber bei einem Erstlingswerk will ich nochmal großzügig darüber hinwegschauen ;-)

Ein Monat auf dem Land
144 Seiten

Viel ereignet sich nicht auf den rund 150 Seiten dieses kleinen Büchleins. Aber dennoch ist es überaus lesenswert, diese in liebevoller und das Herz wärmende beginnende Heilung des jungen Kriegsversehrten Tom Birkin. Noch immer schwer gezeichnet vom Soldatendasein im 1. Weltkrieg, dazu gerade verlassen von seiner Frau, nimmt der junge Restaurator den Auftrag in einem kleinen Dorf an, ein mittelalterliches Gemälde in einer Kirche freizulegen. Vorsichtig nähern sich Tom und die Dorfbewohner einander an, es entstehen Freundschaften und langsam, ganz langsam beginnen seine Verletzungen weniger zu schmerzen und die Freude am Leben zuzunehmen.
Carr lässt Tom aus der Ich-Perspektive erzählen, sodass man sein Denken und Fühlen unmittelbar miterlebt. Wie er vorsichtig sein Umfeld taxiert, während er gleichzeitig versucht, die Erinnerungen an die Kriegserlebnisse zu unterdrücken. Voller Zurückhaltung, aber auch mit freundlichem Interesse beobachtet er die Menschen und es wächst der Wunsch in ihm, einer von ihnen zu werden. Carrs Sprache ist voller Wärme aber auch Humor, sodass es wirklich ein Genuss ist, Toms Geschichte zu lesen. Wie er sich beispielsweise dem Ofen in der Kirche widmet: "Verärgert gab er (der Pfarrer) ihm einen kleinen Tritt. Er und der Ofen starten einander finster an wie zwei Erzfeinde. ... Ich streichelte besänftigend die Stelle, die der Pfarrer zuvor so schnöde gestoßen hat."
Ein schönes kleines Buch, wie die Zeit, der richtige Ort und die richtigen Menschen auch die schlimmsten Verletzungen langsam heilen können.

Deutschlandreise

Die Autorin und Autoren dieses Hörbuches sind wohl den Meisten geläufig: Theodor Fontane, Mark Twain, Heinrich Heine und sechs weitere KlassikerInnen. Alle haben sie Deutschland bereist und darüber geschrieben, was sie gesehen und erlebt haben und wie sich ihnen Deutschland präsentierte. So ist ein bunter Querschnitt durch die Lande und durch die Zeiten entstanden, sodass sich den Hörenden ein breites Spektrum bietet. Von Hamburg bis München gehen die Reisen, von der Pfalz bis Weimar und vermitteln anschaulich ein Bild der großen Vielfalt, die in Deutschland seit jeher vorzufinden ist.
Der Stil der Beiträge ist fast ebenso vielfältig: Es reicht von humorvollen, phantasiegeschmückten Abenteuerreisen (Mark Twain) bis hin zu fast schon völkerkundlichen Abhandlungen (Germaine de Staël). Selbst die Lyrik kommt nicht zu kurz (Heinrich Heine). In jedem Fall jedoch erfährt man Neues und Überraschendes, zumindest mir erging es so. Dass beispielsweise die schwäbische Kehrwoche bereits zu Montaignes Lebzeiten (16. Jahrhundert) bekannt war, hätte ich nie und nimmer gedacht. Tja, Gutes überdauert offenbar sogar die Jahrhunderte ;-)
Als Vortragende konnte Audiobuch wirklich tolle SprecherInnen gewinnen: Frank Arnold, Heikko Deutschmann, Ulrike Hübschmann und David Nathan. Nur Oliver Rohrbeck überzeugte mich als Heinrich Heine nicht so besonders. Zu jugendlich-unbedarft empfand ich seine Stimme für die durchaus bösen Spitzen, die Heine ja so genial zu verteilen weiß.
Am meisten begeistert haben mich Mark Twain mit seiner Wanderung durch das Neckartal und Heinrich Heines Harzreise. Und mit Otto Julius Bierbaum habe ich zudem noch jemand Neuen kennengelernt, dessen Werke ich mir mal genauer anschauen werde. Alle drei Berichte sind humorvoll und unterhaltend, aber dennoch informativ, während ich den Bericht des großen Goethe als recht dröge empfand.
Alles in allem aber eine abwechslungsreiche Mischung der unterschiedlichsten KlassikerInnen, bei der man einiges Neues über Deutschland erfährt.

Häuser aus Sand
396 Seiten

Erzählt wird eine Familiengeschichte über vier Generationen hinweg, die wohl typisch ist für diese Gegend aus der sie stammt: Palästina. Es beginnt mit Salma, die mit ihrem Mann Hussam in Jaffa lebt. Doch durch den UN-Teilungsplan 1947, der einen Bürgerkrieg zur Folge hatte, müssen sie fliehen und bauen sich in Nablus ein neues Leben auf. Aber auch dort ist ihrer Familie kein Frieden vergönnt: der Sechs-Tage-Krieg 1967 lässt sie erneut fliehen und sie finden sich in Kuwait wieder, bis sie erneut der Krieg erreicht, als 1990 irakische Truppen einmarschieren.
Für unsereins, die Krieg und Vertreibung (glücklicherweise) nur aus dritter Hand kennen, erscheint dies unvorstellbar: wieder und immer wieder das Zuhause aufgeben und in einer fremden Welt von vorne beginnen. Es ist die Familie, die Schwestern, Brüder, Oma, Opa usw., die sich gegenseitig dabei helfen, das alles gemeinsam durchzustehen.
Die Autorin schildert überzeugend (vermutlich weil ihr Lebenslauf gewisse Ähnlichkeiten mit einer der Figuren aufweist), wie sich für die einzelnen Mitglieder das neue Leben darstellt und entwickelt. Jedes Kapitel ist im Abstand von zwei bis zu zehn Jahren immer einer Person gewidmet, die sich an das Vergangene erinnert und die Gegenwart, in der sie lebt, beschreibt. So begleitet man die Familie durch den Lauf der Zeiten und macht sich vielleicht zum ersten Mal bewusst, was die Menschen dort bisher alles durchleben mussten. Wobei deutlich gemacht werden muss: Diese Familie ist im Vergleich zu vielen anderen sehr privilegiert, da sie über ausreichend Mittel verfügt, sich immer wieder ein neues Heim aufzubauen. Was es für die Armen dieser Länder bedeutet, wird nur ansatzweise dargestellt, was ich bedauerlich finde. Aber vielleicht wäre die Lektüre für einen Sommerschmöker dann zu schwermütig geworden und hätte eher abgeschreckt - wer weiß.
So ist es eine unterhaltsame, melancholische Familiengeschichte aus einem Land, das man bei uns wohl nur aus den Nachrichten kennt.

Kraft
237 Seiten

Kraft, eigentlich erfolgreicher Professor in Tübingen, braucht dringend Geld. Seine zweite Ehe steht kurz vorm endgültigen Scheitern, vier Kinder und zwei (Ex)-Ehefrauen müssen versorgt werden. Und die teure Wohnung ist auch noch nicht abbezahlt. So nimmt er sich in den USA bei seinem ehemals besten Freund Ivan zwei Wochen Auszeit, um sich auf eine Preisfrage vorzubereiten, die als Gewinn eine Million Dollar bietet. Doch eine mögliche Antwort fällt ihm deutlich schwerer als er es sich vorgestellt hat.
Während sich Kraft in der Gegenwart mühsam mit der Beantwortung der Frage 'Why whatever is, is right und why we still can improve ist?' abmüht, wird parallel dazu sein Leben geschildert, das sich hauptsächlich an 'seinen' Frauen ausrichtete. Kraft ist ein Schwafler sondergleichen, was sich in seinem Berufsleben bislang eher positiv auswirkte, in seinem Privatleben hingegen verheerend. Obwohl in Wissenschaftskreisen seine Person hochgeschätzt wurde und wird, bleiben im Rückblick (so erschien es mir nach der Beendigung des Romans) in erster Linie für sein Leben seine Beziehungen bestimmend, die durchweg nicht glücklich endeten - seine Schwafelei hatte vermutlich keinen kleinen Anteil daran.
Der gesamte Roman ist in einem solch schwafelnden Tonfall geschrieben, wobei er durchaus mit einer Menge Ironie versehen ist wie in diesem Textauszug, als Kraft den Stanfordcampus durchquert, während dort ein Attentäter unterwegs sein soll:
"Andererseits, so rechnet er (Kraft) sich aus, wird er, wenn alles gut geht, den Schuss gar nicht mehr hören. Kraft versteht zwar nichts von Ballistik, aber er ist sich doch sicher, dass die Kugel schneller sein wird als der Schall ... Überlegungen dieser Art anstellend, gelangt er zum Shopping Center, um etwas enttäuscht festzustellen, dass dort reger Betrieb herrscht und der Alarm für diese Gegend nicht gilt … Allerdings so muss er zugeben, wäre es für seine Biographie kein besonders würdiger Schlusspunkt, zwischen Victorias Secret und einem Dunkin' Donut zu verbluten, zumindest wesentlich unpassender als der Tod auf einem Universitätscampus."
Doch irgendwann nutzt sich dieser Tonfall ab und die endlos langen Schachtelsätze (teilweise deutlich länger als eine Seite) wirkten trotz aller Ironie und Spott nur noch ermüdend. Schade, denn dem Autor gelingt es ohne jede Gehässigkeit zu zeigen, dass nicht hinter jedem erfolgreichen Start-up und Jungmillionär auch ein großer Geist steckt. Selbst in Silicon Valley findet sich jede Menge hohles Geschwätz und Geschwafel.

Der Präsident
480 Seiten

Bereits das Titelbild macht mit der darauf abgebildeten Silhouette deutlich klar, welcher Präsident hier als Vorbild diente. Seit er das Amt inne hat, ist nicht mehr die Vernunft Handlungsmaxime, sondern allein das Bauchgefühl - und zwar das des Präsidenten. Als er von Nordkoreas Machthabern verbal angegriffen wird, ist seine Wut so groß, dass er allen Ernstes beabsichtigt, das Land mit Atomwaffen anzugreifen. In buchstäblich letzter Sekunde wird er davon noch abgebracht, doch alle um ihn herum wissen: DAS kann durchaus wieder passieren. Da es keine Möglichkeit gibt, den Präsidenten seines Amtes zu entheben, beschließen zwei altgediente, hochrangige Mitarbeiter: Der Präsident muss sterben.
Angesichts des realen Hintergrundes ist die Erwartung natürlich groß, dass sich die Handlung dieses Thrillers ebenfalls stark an den realen Gegebenheiten orientiert und das Gebaren des ersten Mannes im Staate deutlich dargestellt wird. Doch die eigentliche Hauptfigur ist Maggie Costello, eine Mitarbeiterin im Weißen Haus, die die Hintergründe des Todes des Leibarztes des Präsidenten aufklären soll, wobei sie einer Verschwörung auf die Spur kommt und dabei ihr Leben aufs Spiel setzt. Zwar werden immer wieder Aktionen des Präsidenten und Twittermeldungen von ihm in den Text eingebaut, die durchaus realistisch wirken, doch insgesamt ist die Geschichte derart überzogen, dass in der Realität wohl auch die Regierung des Weißen Hauses damit nicht durchkommen dürfte (aber ganz sicher bin ich mir natürlich auch nicht … ;-)).
Doch diese Mischung aus Realität und Phantasie macht meiner Meinung nach einen großen Teil des Reizes dieses Buches aus. Man weiß ja, dass es schlimm ist. Aber könnte es tatsächlich noch so viel übler sein? Ansonsten ist die eigentliche Handlung ein ordentlicher Krimithriller mit mehr oder weniger gelungenen Überraschungsmomenten, die man irgendwie doch schon geahnt hatte. Stellenweise nervig fand ich die teilweise seitenlangen gedanklichen Selbstbezichtigungen von Maggie und auch die Darstellungen McNamaras (Maggies 'Gegenspieler'), in denen er die Absichten und Hintergründe der Regierung darlegt. Etwas weniger Klischee, auch bei den Figuren, hätte dem Buch sicherlich gut getan.
Alles in allem aber eine solide spannende Lektüre mit (etwas) Bezug zur Realität.

Stille Feinde
398 Seiten

Den ersten Teil um den Privatdetektiv I.Q. habe ich mit Genuss gelesen und so freute ich mich auf die Fortsetzung. Auch dieses Mal spielt sich das Geschehen im Bandenmilieu in L.A. ab: I.Q. gerät zwischen die Fronten der asiatischen Triaden und der mexikanischen Locos Surenos 13, die beide auf der Suche nach Janine sind, einer Tochter eines hochrangigen Triadenmitgliedes, und ihrem Freund. Die Einen werden von ihnen mit gestohlenen Dokumenten erpresst, den Anderen schuldet das Pärchen Geld. Mittendrin I.Q., der gemeinsam mit seinem Partner versucht, die Beiden aus diesem Schlamassel zu befreien und so ganz nebenbei den Tod seines Bruders Marcus vor acht Jahren aufzuklären.
Es ist ein bisschen viel, was sich der geniale Isaiah da aufbürdet - und nicht nur er ;-) Auch beim Lesen wird man ganz schön gefordert: Jeder und jede ist irgendwie mit jedem und jeder verbandelt, sodass die rasanten Perspektivwechsel bei geringerer Aufmerksamkeit oder einer längeren Unterbrechung dazu führen können, schnell den Überblick zu verlieren. Die Geschichte selbst wird dadurch zu einem relativ komplexen Gebilde, das sich zwar am Ende widerspruchsfrei auflöst, doch insgesamt recht konstruiert wirkt - insbesondere das Ende.
Gefehlt hat mir zudem dieses Mal der Humor, der im ersten Teil einen bemerkenswerten Kontrast zu dem düsteren Milieu darstellte, in dem sich das Ganze abspielte.
Fazit: Nach meinem Empfinden konnte diese Fortsetzung leider nicht das Niveau des ersten Teils halten - schade.

Kukolka
375 Seiten

Es gibt Bücher, die verschlagen einem die Sprache, machen einen atemlos. Aus Begeisterung, Faszination und/oder Entsetzen. Letzteres trifft auf Kukolka zu, denn die Geschichte, die hier erzählt wird, ist so grausam, dass ich mir immer wieder wünschte, sie sei reine Phantasie. Vermutlich bleibt es bei einem frommmen Wunsch.
Die siebenjährige Samira flieht aus dem Waisenhaus, in dem sie (wie auch die anderen Kinder) eher als lästige Objekte wie als zu umsorgende Lebewesen behandelt werden. Schikanen und Schläge sind an der Tagesordnung, und als ihre beste Freundin Marina von deutschen Eltern adoptiert wird, beschließt Samira, ihr nachzureisen. Sie gerät an Rocky, der sie unter seine Fittiche nimmt, und sie, wie auch andere Kinder und Jugendliche, betteln, stehlen und arbeiten lässt, um damit sein Leben zu finanzieren. Doch Samira ist glücklich, denn endlich scheint sie frei zu sein und mit Rocky einen Menschen zu haben, der sich wirklich um sie kümmert. Mit dreizehn trifft sie Dima, einen jungen Mann, der von ihr ebenso fasziniert ist wie sie von ihm und sie tatsächlich nach Deutschland bringt. Samira scheint fast am Ziel, doch ihr Glück währt nicht lange.
Es ist eine Geschichte, wie man sie vermutlich schon unzählige Male in der Kurzversion im Fernsehen gesehen oder in irgendwelchen Zeitschriften gelesen hat. Doch hier wird das Erlebte aus der Perspektive eines betroffenen Kindes geschildert, das einen scheinbar unverrückbaren Glauben an das Gute im Leben hat - und im Menschen. Sie wird ausgebeutet, verraten und missbraucht - und dennoch bleibt sie im Grunde ihres Wesens eine Optimistin.
Bei einer derartigen Geschichte und einer solchen Heldin besteht die Gefahr, dass das Ganze schnell kippt: in eine allzu mitleidsvolle, vielleicht schon kitschige Gefühlslage. Doch der Autorin gelingt das Kunststück, die Sprache dieser Heldin so natürlich wiederzugeben, als stünde sie neben einem und würde alles direkt erzählen, ohne Bitterkeit, einfach grausam-sachlich: "Ich sollte ihn mit beiden Händen reiben. Rocky sagte, er braucht das. Das wäre das Mindeste, was ich für ihn tun kann, um ihm Schmerzen zu nehmen und damit er sich erholen kann. Er sagte, es wäre gut, wenn ich früh lerne, wie ein männlicher Körper funktioniert und wie man einem Mann Freude bereitet. Denn irgendwann würde ich einen Freund haben, und er würde enttäuscht sein von mir, wenn ich keine Erfahrung habe. Er sagte, dass er mir einen Gefallen tut, indem er mir das alles beibringt."
Keine Gute-Laune-Literatur, aber eine äußerst intensive und berührende Lektüre!

Der Sommer der Pinguine
143 Seiten

Fantastisch und märchenhaft beginnt dieses kleine Büchlein, dessen äußere und innere Bebilderung etwas an Sempé erinnert. Die mittelalte Mrs. Robington, Geographielehrerin im öffentlichen Dienst des Vereinigten Königreiches, stellt bei ihrem Besuch in London überrascht fest, dass Pinguine unbemerkt die britische Bevölkerung bereichern. Der Pinguin-Buchhändler Basil Snow offenbart ihr, wenn auch etwas widerstrebend, sein Geheimnis und bittet sie, darüber zu schweigen. Wer weiß, ob ihm und seinesgleichen sonst weiterhin ein ruhiges Dasein beschert sein wird. Mit ihrem nunmehr geschärften Blick entdeckt Mrs. Robington zu ihrer Freude auf ihrem weiteren Ausflug durch die Hauptstadt immer mehr Artverwandte von Basil Snow. Als sie kurz darauf erkennen muss, dass das Geheimnis der Pinguine in Gefahr ist, aufgedeckt zu werden, fasst sie einen Plan.
Bezaubernd und liebenswert mit einer anmutig altmodischen Sprache ist das erste Drittel des gerade einmal knapp 140 Seiten umfassenden Büchleins. Auch die schwarzweiß Illustrationen von Isabel Pin passen (meist) gut dazu - überaus entzückend beispielsweise das Bild von Basil Snow in seiner Buchhandlung. Doch leider hält der Rest der Geschichte nicht, was der Anfang erhoffen lässt. Es wird eine Reihe von weiteren Handlungssträngen aufgebaut, die für den Fortgang des Ganzen völlig unerheblich sind und einfach so im Sande verlaufen. Dazu kommen Geschehnisse, die derart unlogisch und nicht nachvollziehbar sind, dass ich beim Lesen nur noch den Kopf schüttelte. Ebenfalls betrüblich fand ich die Wesensveränderung der zu Beginn so zauberhaften Mrs. Robington, die unverständlicherweise plötzlich eine solch arrogante und hochnäsige Haltung an den Tag legt, dass mir fast die Lust am Weiterlesen verging. Und dass die titelgebenden Pinguine praktisch bloß noch am Rande auftauchen, so dass sie letztendlich nur noch den Hintergrund für die Aktivitäten der Geographielehrerin darstellen, ist ebenfalls enttäuschend.
Schade schade, es hätte eine so schöne Geschichte werden können.

Blanca
240 Seiten

Blanca ist 15 Jahre jung und bereits einiges gewohnt in ihrem Leben. Seit sie sich erinnern kann, ist sie gemeinsam mit ihrer Mutter Anna auf der Flucht - vor zu viel Nähe, Vertrautheit, Geborgenheit. Denn Anna will frei und ungebunden sein, keinen Pflichten und Konventionen unterworfen; was manchmal etwas schwierig ist, wenn man eine kleine Tochter hat. So lässt sie die kleine Blanca immer wieder mutterseelenallein, nur mit dem Satz: Warte hier, ich komme wieder. Mit zunehmendem Alter wird Blancas Bedürfnis nach Beständigkeit und einem Ort, an dem sie zuhause ist, immer größer und die Zusammenstöße mit ihrer Mutter immer heftiger. Nach einem besonders erbitterten Streit packt Blanca ihre Sachen und macht sich auf die Reise zu dem einzigen Ort, wo sie sich jemals geborgen und sicher gefühlt hat: eine kleine Insel in Italien.
Es ist ein Roadmovie der ganz eigenen Art. Als 15jährige allein unterwegs, irgendwann dazu ohne Geld, gelangt sie in schwierige und zeitweise auch aussichtslos wirkende Situationen. Doch das Glück scheint auf ihrer Seite zu sein, im richtigen Moment trifft sie Menschen, die es gut mit ihr meinen. Was die Geschichte jedoch so besonders macht, ist Blanca selbst, in deren Kopf die unterschiedlichsten Gedanken ohne Pause ständig kursieren. Sie stellt sich Fragen über Fragen, meist ohne Antworten, um die Welt und sich selbst zu verstehen.
Ihre Sprache wie auch ihre Handlungen wechseln zwischen kindlich unbedarft und erwachsen und mündig, sodass man manchmal fast vergessen kann, dass es sich hier um ein 15jähriges Mädchen handelt. Der Autorin gelingt es wirklich meisterhaft, den Lesenden die Gedankenwelt eines jungen Menschen nahezubringen, dem viel zu früh zu viel Verantwortung auf die jungen Schultern geladen wurde.
Blancas Schicksal wird mir sicherlich noch eine geraume Zeit im Gedächtnis bleiben, ebenso wie die Frage: Wie viele solcher Kinder gibt es noch da draußen?

Die Hauptstadt
459 Seiten

Nach dem Lesen dieses Romans ist eines jedenfalls klar: Brüssel ist Europas Hauptstadt, hier findet man die VertreterInnen aller Nationen, die gegen- und miteinander versuchen, die Gegenwart und Zukunft unseres Kontinents zu gestalten. Doch so unterschiedlich die Menschen dort auch sind, auf irgendeine Weise sind sie miteinander verbunden, jetzt oder durch ihre Vorfahren in der Vergangenheit. Davon handelt dieses Buch, vom Leben in dieser Hauptstadt und den zumeist unsichtbaren Fäden, die die BewohnerInnen untereinander verknüpfen.
Viele Geschichten werden hier erzählt: die des Kommissars Brunfaut, dem die Untersuchung eines Mordfalles entzogen wird; die des ehemaligen Auschwitzgefangenen David de Vriend, der in ein Altenheim umzieht; die der EU-Beamtin Fenia, die sich strafversetzt fühlt und zum ersten Mal ein Gefühl verspürt, an das sie nie glaubte; und sechs, sieben weitere Personen, die alle auf ihre Art ihre Nationen vertreten, gleichzeitig aber so europäisch sind, wie man es nur sein kann.
Robert Menasse erzählt in einem locker-leichten Plauderton mit viel (auch schwarzem) Humor und serviert einem praktisch so nebenbei viele der Probleme unserer Zeit mit teilweise umfangreichen Analysen: Flüchtlingskrise, Vergangenheitsbewältigung, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, zunehmende Medialisierung, Werteverlust usw. Das Ganze meist mit jeder Menge feiner Ironie und leichter Spöttelei, sodass ich mich trotz der ernsten Themen häufig gut amüsierte.
Einen kleinen Haken hat das Buch jedoch, wie ich finde. Durch die vielen ProtagonistInnen wechseln die Erzählstränge zwangsweise häufig und auch schnell. Liest man den Roman zügig durch, dürfte das kein Problem sein. Zieht es sich jedoch etwas hin (wie es bei mir der Fall war), kommt kein richtiger Erzählfluss auf. Die Figuren wurden mir nicht vertraut genug, sodass ich nahtlos wieder einsteigen konnte - häufig musste ich zurückblättern, wer wer war. Trotzdem war es eine unterhaltsame und stellenweise auch erhellende Lektüre.

Opfer
329 Seiten

Die Sache scheint klar, die Videoaufnahmen der Einkaufspassage Monier zeigen ein eindeutiges Bild: den bewaffneten Überfall auf ein Juweliergeschäft und (sozusagen als Kollateralschaden) das Zusammenschlagen sowie die versuchte Tötung von Anne Forestier, der Lebensgefährtin Camille Verhoevens, Leiter der Mordkommission. Obwohl der Fall nicht in seine Zuständigkeit fällt, zieht Camille ihn an sich und beginnt zu ermitteln, weit über seine zuständigen Befugnisse hinausgehend.
Aufgrund des zu Beginn klaren Sachverhaltes war die Spannung erst einmal eher verhalten. Der Täter scheint klar, die schwer verletzte Anne konnte ihn identifizieren. Doch nach und nach schleichen sich kleine Ungereimtheiten in den Text, die ich eher beiläufig registrierte und mich zum Zurückblättern animierten. Das passt doch nicht ….? Die Unsicherheit ist eher unterschwellig, ich ahnte, dass da etwas nicht so war wie es schien. Doch klar wird es erst nach gut zwei Dritteln des Buches, was jedoch nicht bedeutet, dass man der Auflösung des Vorgefallenen nun bedeutend näher ist. Ganz im Gegenteil: Die Verwirrung steigt.
Was die zu Beginn eher verhaltene Spannung mehr als wett macht, ist der Stil dieses Thrillers. Erzählt wird zum Einen aus der Sicht Camilles, wobei hier die Lesenden auch direkt angesprochen werden. Ein Beispiel: "Denn Ihr Denkvermögen ist derart blockiert, dass Sie meistens rein reflexartig reagieren. Zum Beispiel, wenn die Frau, die Sie lieben, vor den drei Schüssen buchstäblich zu Brei geschlagen wird und Sie deutlich sehen, wie der Killer anschließend deutlich sein Gewehr mit einer knappen Bewegung durchlädt und anlegt." Durch diese 'Ansprache' intensiviert sich das Geschehene, was einem das Gelesene manchmal fast schon unerträglich macht (mir zumindest ging es so), da der Autor vor Details nicht zurückschreckt, die er jedoch in einer fast schon gewählten Sprache wiedergibt.
Im zweiten Erzählstrang berichtet der Täter aus der Ich-Perspektive, ungerührt und fast schon belustigt von seinen Leistungen, die er im Laufe des Buches vollbringen wird. Wobei hier bald klar wird, dass etwas nicht stimmt - doch was?
Ein richtig klasse Thriller, der Teil der bisher drei Bände umfassenden Reihe um Kommissar Camille Verhoeven ist und 2015 den CWA International Dagger gewonnen hat. Weshalb man aber mit 'Opfer' nun vorab den vierten Band der Reihe auf Deutsch veröffentlicht und nicht mit dem ersten beginnt, bleibt ein Geheimnis des Verlages.

QualityLand
384 Seiten

Irgendwann in einer vermutlich nicht allzu fernen Zukunft: Sämtliches Dasein ist dem Kommerz untergeordnet: 'Ich konsumiere, also bin ich.' Menschen sind entsprechend diverser Kriterien in Levels eingeordnet, bekommen gemäß ihren Einordnungen in diverse Datenbanken PartnerInnen empfohlen, Essenvorschläge und 'The Shop', der größte Versandhändler, weiß schon im Voraus, was die Einzelnen sich wünschen. Als eines Tages jedoch Peter Arbeitsloser einen rosaroten Delphinvibrator erhält, den er sich ganz bestimmt nicht gewünscht hat und versucht, diesen zurückzugeben, setzt er einen Prozess in Gang, der weitreichende Folgen haben könnte.
Dystopien sind in, denn die Zukunft unseres Planeten und unserer Gesellschaft sieht eher trübe aus. Was in Qualityland teilweise in extremer Form dargestellt wird, ist in Ansätzen (und auch teilweise schon darüberhinausgehend) bereits Realität. Menschen, die in Level eingestuft werden, die je höher sie sind, Bevorrechtigungen ermöglichen (kommt in China). Die Komplettüberwachung der Bevölkerung durch eine vollständige Vernetzung aller elektronischen Geräte; Privatisierung aller öffentlichen Aufgaben (z.B. muss die Polizei in Qualityland ihren Unterhalt selbst erwirtschaften); Probleme haben ihre Ursache immer außerhalb des eigenen Landes. Alles Themen, die nicht gerade vermuten lassen, dass sie in einer humorvollen Lektüre vorkommen.
Doch Marc-Uwe Kling gelingt es, indem er die Szenarien völlig überspitzt und damit teilweise schon ins Absurde treibt. Trotz des wahren und häufig allzu traurigen Kerns bleibt einem nichts anderes mehr übrig, als zu lachen ;-). Auch wenn mir manchmal das Lachen buchstäblich im Halse steckenbleiben wollte. Dennoch: nicht die schlechteste Art und Weise, Missstände aufzuzeigen, die häufig niemand (mehr) hören will. Ein kleines Beispiel zum Thema Lebensmittel: 'Hast Du schon mal FeSaZus probiert? Du weißt nicht, was FeSaZus sind? FeSaZus sind industriell verpresste Klumpen, die nur aus dem Besten bestehen, was die Nahrungsmittelindustrie zu bieten hat: Fett, Salz und Zucker! Klingt pervers, ist aber geil. Das FeSaZus-Reinheitsgebot: 1/3 Fett, 1/3 Salz, 1/3 Zucker. Jetzt neu: SchmalzFeSaZus mit Speckgeschmack! Am besten mit unserer 50-Prozent-Zucker-Barbecue-Soße.'
Marc-Uwe Kling liest sein Buch selbst vor und ich finde, er macht das richtig klasse. Der lethargische Peter, das herrlich schimpfende pinkfarbene Qualitypad (das das Känguru fast ersetzt ;-)), die stets beflissene Kalliope usw. Dem Autor gelingt es, all seinen Figuren eine eigenständige Stimme zu verleihen, sodass ich keinerlei Schwierigkeiten hatte, sie zu unterscheiden.
Ein tolles Hörbuch, das man durchaus auch mehrfach hören kann.

Das Mädchen, das in der Metro las
172 Seiten

Die junge Juliette lebt in Paris ein eintöniges Leben: neben ihrer ungeliebten Arbeit geht sie einmal in der Woche ins Kino, ins Schwimmbad und isst Sonntags mit ihrem Vater zu Mittag. Sie fühlt, dass ihr Leben an ihr vorübergleitet, nur Bücher reißen sie aus ihrer Lethargie; doch ihr fehlt der Mut, daran etwas zu ändern. Als sie eines Morgens spontan einen anderen Weg zur Arbeit nimmt, lernt sie den merkwürdigen Soliman und seine zehnjährige Tochter Zaïde kennen, was ihr Leben verändern wird. Er lebt ausschließlich inmitten unvorstellbarer Bücherberge und ist davon überzeugt, dass das richtige Buch zur richtigen Zeit das Leben eines Menschen zum Guten verändert. Zaïde hingegen liebt Bücher, weil sie ihr Lust auf Abenteuer machen, auch wenn sie noch zu klein ist, um eigenständig welche zu erleben.
Es ist ein Büchlein, das Mut machen will zu leben - und dazu können Bücher eine Anregung bieten. 'Das richtige Buch zur richtigen Zeit und schwupps krempelt man sein Leben um' mag als Botschaft ganz klar zu überschwenglich sein, aber dem Grunde nach stimmt die Aussage. Wer liest, hat mehr vom Leben - zumindest im eigenen Kopf. Und wem es gelingt, das Gelesene als Inspiration für das eigene Leben zu sehen, wird sich über Änderungen kaum zu wundern brauchen. Doch es sind nicht nur Bücher, die inspirieren können; auch andere Menschen, Gegenstände, Farben, Formen. Die Welt ist voll von Wundern, Geschichten und Abenteuern, für die man lediglich die bekannten und ausgetretenen Pfade verlassen und etwas Mut aufbringen muss.
Auch wenn es sich jetzt vielleicht so liest: Dies ist keine Gute-Laune-Lektüre, dafür sind manche der Geschehnisse schlicht zu traurig. Dennoch ist die Botschaft klar: Das Leben ist schön, traue Dich es zu leben. All dies erzählt die Autorin Christine Féret-Fleury in einer wunderbar poetischen Sprache, sodass es dem Ganzen eine fast schon märchenhafte Atmosphäre verleiht.

Das Feld
256 Seiten

Die Geschichten der Toten des Feldes, des Friedhofes des kleinen Städtchens, sind wie ein Palimpsest. Denn die neuen Toten werden auf den alten begraben ('Man rutscht ab mit der Zeit', S. 99) und erzählen dann ihre Geschichten - und damit so ganz nebenbei auch die Geschichte ihrer Stadt. Sie handeln von den Dramen des Lebens wie auch vom kleinen Glück, das für die Einzelnen nicht selten das große ist. Liebe, Tod, Glück und Tragik liegen nah beieinander, nicht selten auch im selben Haus. Manche stellen sich ihren Lebenslügen, andere halten selbst im Tod noch daran fest - wie die Menschen eben sind. Schön ist die Verbundenheit einiger Figuren, die bei manchen enger (beispielsweise als Paar), bei anderen nur lose besteht. Auf diese Weise erlebt man beim Lesen immer wieder eine unterschiedliche Sicht auf dasselbe Geschehen, was immer wieder faszinierend ist.
Es ist ein Buch, das unglaublich die Phantasie anregt, denn Vieles wird nur angedeutet. Jedoch stets in einem Maße, das ausreicht, um eine Vorstellung zu vermitteln und schon beginnen die eigenen Gedanken eigene Wege zu gehen. Der Postbote - welches Drama spielt sich bei ihm daheim ab? Mit wem sitzt die Witwe auf der Terrasse? Was war Buxters letzte Tat? Es gibt mehr Fragen als Antworten, aber das macht auch den Reiz dieses Buches aus.
Doch mit einer Sache haderte ich: Der Tonfall war für alle Toten annähernd gleich. Ob ein Kind oder eine alte Frau erzählen - die Unterschiede sind marginal und fallen kaum ins Gewicht. So wird es schwer, die einzelnen Stimmen als Person im Gedächtnis zu behalten, es sind die Geschichten, die sich einem einprägen müssen.
Dennoch eine schöne Lektüre mit viel Raum für die eigene Phantasie.