Normale Menschen
320 Seiten

Ich wollte das Buch lesen, weil es gefühlt jeder gelesen hat und es auf die allermeisten großen Eindruck gemacht hat. Das hat es auf mich auch. Eventuelle Spoiler folgen.

Zunächst finde ich, dass es ein überaus realistisches Buch über zwei äußerst unrealistische Menschen ist, die ich gut und nachvollziehbar beschrieben finde (das mag paradox klingen, hier passt es aber dazu). Mich haben die Handlungen, die Marianne und Connell im Laufe der knapp 5 Jahre der Buchhandlung vollziehen, tief emotional berührt, erschüttert, zum Weinen und Freuen gebracht. Ich habe das selten so erlebt. Ich war fassungs- und hilflos, wollte aufhören und konnte es doch nicht tun, weil ich danach gierte, dass sich alles in Wohlgefallen und Harmonie auflöst (was dann in einem unrealistischen Buch gemündet wäre). Die optimalen Zeitpunkte des Aufhörens wären die Seiten 114, 312 oder 316 (also der vorletzte Absatz!) gewesen. So muss ich mich darauf beschränken, dass in meiner eigenen Fantasiefortführung es so weitergeht, wie ich es gern hätte. Glücklicherweise fühlt es sich so an, als ob Sally Rooney das gutheißen würde.

Ich habe eine Buchkritik eines Marxisten gesehen (der das Buch las, weil Rooney sich als Marxistin und auch als marxistische Autorin begreift), der das Buch nicht mochte. Ihm gefiel die Sprache nicht, was ich nicht unterschreiben möchte; ich finde, dass sich eine ganz besondere Ästhetik entfaltet, die eine herrliche Symbiose mit dem Inhalt eingeht. Zweitens gefiel ihm nicht, dass alles ausbuchstabiert wird und es nicht subtil sei. Hier kann ich seinen Punkt nachvollziehen, aber auch hier will ich entgegenhalten. Meiner Ansicht nach habe ich beim Lesen das Gefühl gehabt, einen Film zu sehen, aber als auktorialer Seher. Gewissermaßen habe ich eine subtile Mimik gesehen und gleichzeitig die blitzschnellen großen Gedanken, die einem im Bruchteil von Sekunden durch den Kopf schießen. Das Gefühl ist auch durch die szenisch-episodische Erzählweise (man erlebt immer eine kurze Zeit und hat dann Zeitsprünge von Wochen oder Monaten) vorhanden. Ich sehe in dieser Kritik eher ein snobistisches Argument, sich auf seinen Intellekt zu berufen. Denn dieses Buch ist meiner Meinung nach nicht marxistisch (Anm. 1); es greift die Frage der Klasse wenn überhaupt nur am Rand auf. Viel wichtiger ist das Gefühl an sich und das Reifen an sich durch die andere Person. Und das ist eine der Hauptstärken des Buchs: Die Beziehung zum anderen Menschen. Deswegen finde ich, dass es ein lesenswertes Buch ist, weil es durch das tiefe Berühren beim Lesen (und wenn sich Figuren berühren, das Berühren ist leitmotivisch, auch wenn das in keiner Rezension wirklich vorkommt) mit dem Leser arbeitet und ihn als anderen Menschen (oder zumindest als (kurz oder länger) reflektierenden Menschen) zurücklässt. Großartig und meisterhaft.

Tldr: Ich liebe dieses Buch wirklich. Ich werde es irgendwann auch auf Englisch lesen und das Scriptbuch zur Serie werde ich auch kaufen und lesen.

Anm. 1: außer natürlich im weiteren Sinne in der sexuellen Sphäre, weil Marianne masochistisch ist und Connell "gehört" bzw gehören will und sich Connell seiner Macht über sie bewusst ist, es aber in einem Zustand der Schwebe ist, wie er sie nutzt. An sich hegt er keine oppressiven Gedanken, ihm geht es meiner Ansicht nach hauptsächlich um die Nähe zu ihr und das Erleben des Gefühls, das er nur bei ihr hat. Beispielhaft ist das bei der Beschreibung zur Beziehung mit Helen, die keine Tiefe erhält, weil er sie mit ihr nicht erleben kann. Den einzigen Egoismus/Sadismus erhält die Beziehung zu Marianne die Tatsache, dass er sie haben will. Auch gibt es an sich die "Klasse" im Sinne der Beliebtheitsskala, doch die ist meiner Meinung nach nicht sonderlich wichtig, weil beide sich sozusagen außerhalb einer Klasse sehen. Beim Marxismus geht es aber nicht um solcherlei Dinge, sondern um die Produktionskräfte und die werden hier nicht getackled.