Kaffee und Zigaretten
192 Seiten

Wie ein Sog. An einem Stück konnte, musste ich es lesen. Ich bin ein Freund von "wortkarger Prosa", wie zB Camus (der auch Erwähnung findet) und Anderen, doch dies war eine ganz andere Erfahrung. Längere Anekdoten wechseln sich mit random und grotesk deplatziert wirkenden "Kurzmeldungen" ab.

Die ganze Zeit bewunderte ich von Schirachs "Nähe" (physisch) zur Hochfinanz, Adel, bedeutenden Leute, die etwas erlebt haben und ob dieser Erfahrungsschwere des Lebens leicht überdrüssig scheinen.

Das grobe Thema, dass sich mir erst nach und nach aufdrängte (und das dann mit Wucht), war die Würde des Menschen. Auch wenn ich seinem Wortgehorsam, dass diese unantastbar sei, nicht ganz zustimme (meiner Meinung nach entsteht dieses abstrakte Konstrukt erst dann wirklich, wenn es tatsächlich angetastet wird und verteidigt werden muss; sie sollte aber nicht angetastet werden), so finde ich diesen "Roman" trotz seiner Sublimität wesentlich schlagkräftiger als Gerald Hüthers Sachbuch.

Eine Sache hatte mich noch gewundert und ich weiß nicht, ob das mit meinem Aufwachsen in einer zeitlichen Ferne zu tun hat (vs von Schirachs nahem Bezug zur NS-Zeit, sein Großvater war in Wien für Deportationen u.Ä. "zuständig"; u.A. seine Aussagen waren für ihn der Grund, Scham und Verachtung zu spüren und zu dem F. von Schirach zu werden, der er schlussendlich wurde), aber seinen Standpunkt zu Gaulands "Vogelschiss"-Debakel fand ich merkwürdig. Alle folgenden Aussagen sind unter Berücksichtigung, dass ich die AfD und vor allem den "Flügel" (wohl eher: Kot-Flügel) nicht ausstehen kann (sie jedoch auch ohne Polemik kritisiert werden darf; meinetwegen an der Schärfe der "Logik" (oder einfachstem common sense) verbluten darf (metaphorisch gesprochen)) zu lesen. Meiner Meinung beging er hier einen affektiven und/ oder intentionalen Fehlschluss ("Das ist kein Versehen, kein Versprecher, kein Tippfehler im Manuskript. Der Politiker wollte sagen, was er sagte: 65 Millionen tote Soldaten und Zivilisten, sechs Millionen ermordete Juden zählen nicht. Er kennt seine johlenden Zuhörer, er weiß, was sie hören wollen und er weiß, worüber die Journalisten berichten werden. Es ist die Sprache, die unser Bewusstsein verändert"). Die Aussage ist tatsächlich auf mehrere Weisen deutbar. Wenn aber ein Gauland im Nachgang sagt, dass er dies eben nicht so meint, wie von Schirach das meint (und in einem irgendwann erschienenen Thilo-Jung-Interview ganz entschieden gegen Hitler und die NSDAP etc ist), dann finde ich es eher schwach. Wobei ich ihm zustimmen muss, dass diese Aussage sehr bewusst platziert wurde. Wie ist also diese Aussage zu beurteilen, da sie sowohl ehr- als auch würdelos und -verletzend sein kann? Ich bin beileibe kein Jurist und würde mir auch kein Urteil anmaßen; kontextfrei würde ich Gauland freisprechen, im Kontext einer rechten bis rechtsextremen Parteikundgebung wäre ich mit dem Freispruch vorsichtiger, da trotz der widerlichen Geschmacklosigkeit Intention vor Außenwirkung geht (auch wenn ich mir der Gefahren, die v.a. in einem Beleidugungskontext entstehen, bewusst bin). Deswegen ist vor allem der letzte Satz recht "perfide", da durch Sprache tatsächlich das Bewusstsein verändert wird, abseits von Framing etc (oder dass ein Buch, das man liest, Spuren im Hirn hinterlässt und das für Jahre, was Denis Scheck immer wieder gerne mit "Stellen Sie sich vor, dass Sebastian Fitzek in ihrem Hirn für unwiderruflichen Schaden anrichtet" (was für ein verschwendetes Kabaretttalent der gute Schwabe doch ist) kommentiert), er durch seine Formulierung aber ebendies macht. Bewusst? Unbewusst?

Ich fühle mich schlecht, dass ich einen Politiker, den ich nicht mag, so verteidigen musste, aber mir persönlich stieß diese Unsauberkeit etwas auf. Man könnte sagen, es sei ein Vogelschiss in einem sonst makellosen hundertseitigem Buch.

Vielleicht habe ich aber irgendwo einen gewaltigen Denkfehler, der mich irgendwann im Schlaf mit der Lösung aufwecken wird. Schließlich bin ich nur 1 dude, der sich die Welt durch Erlesen und nicht durch Erfahren erschließt/erschlossen hat.

Ich würde gerne einmal eine Auseinandersetzung mit dem Autorenbegriff von von Schirach lesen, das wäre interessant. Kann er gute Kritiken schreiben? Würde er es sich nicht anmaßen können

Dieses Buch über Einsam- und Traurigkeit, Erinnerungen, synästhetisches und ästhetisches Fühlen, Scheitern und Erfahren, Denken und Handeln (wie die Nachkriegsfranzosen), Leben und Sterben, gehört zum Besten, was ich je gelesen habe. Ich bewundere den Autor und danke ihm für dieses Buch.

← alle Einträge von Jables