Was ich dir nicht sage
298 Seiten

Die meisten in diesem Buch beschriebenen Situationen sind keine offensichtlich rassistisch motivierten physischen Angriffe, sondern Mikroaggressionen. Die Wirkung von Mikroaggressionen lässt sich beschreiben wie die Last von Schneeflocken auf einem Baumast. Eine einzelne Schneeflocke ist verkraftbar, aber in der Masse führen sie dazu, dass der Ast irgendwann abbricht, weil die Last zu schwer wird. Genauso mögen auch Mikroaggressionen einzeln betrachtet nicht schlimm erscheinen, doch das Problem ist, dass sie ständig da sind, nie aufhören und immer mehr werden. (S.38)

Du möchtest keine Unterschiede sehen, weil du gelernt hast, diese als Grund unserer Trennung zu betrachten. Aber es sind nicht die Unterschiede, die uns trennen, sondern die Wertung, die wir diesen Unterschieden aufzwingen. (S.69)

Die meisten haben keine Ahnung davon, was der Begriff [woke] eigentlich bedeutet und weshalb sie ihn verwenden. Der englische Begriff "woke" bedeutet "aufgewacht" oder "wachsam". Seinen Ursprung hat er im frühen 20. Jahrhundert, als er von Schwarzen Menschen in afroamerikanischen Communities in den USA verwendet wurde, damit sie sich gegenseitig warnen konnten: Auch wenn das System an manchen Orten den Eindruck von Sicherheit vermittelt, bleibe wachsam und aufmerksam, denn es ist gefährlich. In der Öffentlichkeit ist der Begriff ab 2014 bekannt geworden, nachdem Michael Brown, ein 18-jähriger Afroamerikaner, von Polizisten ermodet wurde. "Stay woke" wurde zu einem wichtigen Bestandteil der Black Lives Matter-Bewegung und fand so auch den Weg nach Europa. Das Konzept weitete sich dann von anti-Schwarzem Rassismus auf weitere Diskriminierungsformen und unterdrückerische Systeme aus und wird inzwischen etwa auch im Kampf für Klimagerechtigkeit verwendet. Sehr schnell wurde der Begriff aber auch von Gegner*innen der Befreiungsbewegungen aufgenommen. Rechte Konservative in den USA, stark vertreten durch Donald Trump, begannen vom "Woke-Wahnsinn" als etwas Negatives zu sprechen, als moralisierend und übertrieben. So wurde der Begriff zu einer rhetorischen Waffe, die sich gegen Menschen richtet, die sich gegen Ungerechtigkeiten einsetzen. Das Ziel dieser Waffe ist es, diese Menschen und ihre Aktivitäten zu disqualifizieren. (S.137)

Anja Nunyola Glover setzt sich in diesem Buch mit ihrer persönlichen Geschichte und den Strukturen von Rassismus auseinander. Es ist stark autobiografisch geprägt und zeigt auf, wie tief Rassismus (auch in der Schweiz!) verankert ist. Sie ist sehr direkt und das von ihr konsequent angewendete "Du" (wenn sie über Begegnungen mit Bekannten, Lehrpersonen, Therapeutinnen, Workshop-Teilnehmenden schreibt) bewirkt, dass ihre Worte noch radikaler eindringen und zum Nachdenken anregen. Sie fordert ihre Leserinnen explizit dazu auf, ihre eigenen Denkmuster zu hinterfragen. Sie beschreibt im Buch nicht, was Rassismus ist, sondern was Rassismus macht. Es ist also eher für Menschen geeignet, die sich bereits mit Rassismus auseindergesetzt haben.

Was das Buch aufzeigt: Mensch kann es gut meinen und trotzdem Rassismus reproduzieren. Die Annahme viele in der Schweiz lebenden Menschen, dass Rassismus ein rechtsextremes Phänomen sei, mit dem niemand etwas zu tun hat – ausser Nazis, ist kompletter Blödsinn.

Ein starkes Buch, welches betroffen macht und nachhallt. Ich fühlte mich darin immer wieder ertappt.