Fiona Maye ist eine angesehene Familienrichterin am Londoner High Court. Als ihr der Fall des 17-jährigen Adam auf den Tisch kommt, der aus religiösen Gründen die medizinische Behandlung verweigert, die ihm das Leben retten könnte, ist sie es, die eine Entscheidung über Leben und Tod treffen muss.
Mich hat dieses Buch sowohl überrascht als auch enttäuscht. Nach dem Lesen des Klappentextes hatte ich einen Roman erwartet, der sich mehr dem juristischen Fall widmet und nicht so sehr auf die Charaktere abstellt wie hier geschehen. Der Fall, der eigentlich das Hauptgeschehen ist, verliert sich etwas hinter den persönlichen Problemen der Protagonistin. Bei deren Ausgestaltung bedient sich McEwan leider für meinen Geschmack sehr vielen Klischees und einem überholten Bild, was meine Empathie für ebenjene nicht wecken konnte.
Allerdings geht das irgendwie auf. Zumindest aus meiner Perspektive. Was mich nämlich positiv überrascht hat, war, wie sehr mir Ian McEwans Erzählstil gefällt. Das klinische, distanzierte, was vielen vor den Kopf stoßen mag, hat für mich perfekt gepasst, denn der Fokus sollte auf den ethischen und juristischen Fragen liegen, die in direktem Zusammenhang zu dem Fall stehen, und für mich eigentlich den Kern des doch eher schmalen Buches bilden.
Fiona, 59, Richterin im Bereich Familienangelegenheiten, verheiratet mit Jack, 60. “The Children Act” befasst sich mit ihrem alltäglichen Leben, das für die meisten überhaupt nicht alltäglich ist. Ihr Beruf als Richterin ist kein einfacher, immer wieder muss sie sich mit schwierigen Fällen auseinandersetzen, die man kaum entscheiden kann - so muss sie beispielsweise darüber entscheiden, ob siamesische Zwillinge getrennt werden sollen; eine Entscheidung um Leben und Tod. Diese schweren Entscheidungen färben natürlich auch auf ihr Privatleben ab. Jack empfindet, dass sie sich voneinander entfernt haben und setzt ihr das Messer auf die Brust: Er möchte eine Affäre anfangen und sie muss damit einverstanden sein. Gleichzeitig flattert ein neuer und dringender Fall ins Haus: Der siebzehnjährige Adam, der den Zeugen Jehovas angehört, hat Leukämie und lehnt lebensrettende Bluttransfusionen ab. Fiona muss nun über seine weitere ärztliche Behandlung entscheiden, möchte aber - was sonst ungewöhnlich ist - zunächst persönlich mit Adam sprechen und so entspinnt sich eine ebenso ungewöhnliche Verbindung.
Ian McEwan hat einen ganz besonderen Schreibstil, der jeder Szene seine eigene Atmosphäre gibt. Auf jeder Seite war ich so mitten im Geschehen, ob wir nun bei Fiona Zuhause, im Gerichtssaal oder im Krankenhaus waren. Auch die Charaktere wurden plastisch gezeigt. Der Autor nimmt sich an vielen Stellen ein Thema, beschreibt den Umgang eines Charakters mit diesem Thema und schon sieht man das Innerste dieser Person. Musik ist beispielsweise eines dieser Themen, allerdings auch Fionas Beruf als Richterin. Wir erfahren hier nicht nur von Adams Fall, sondern auch andere Fälle aus ihrem täglichen Berufsleben werden - egal ob groß oder klein - erläutert. Durch Fionas Umgang damit zeigt sich immer mehr ihr Charakter. Auch die Fälle an sich sind ein sehr toller und interessanter Einblick in ein Berufsfeld, über das ich noch überhaupt nicht viel wusste. Adams Fall bildet an dieser Stelle eine Ausnahme, bei der Fiona ganz anders zu handeln scheint..
Insgesamt werden auf den knapp über 200 Seiten eine ganze Reihe schwieriger Themen behandelt und McEwan schafft es hier stets, diese logisch und nachvollziehbar begründet zu lösen. Trotzdem habe ich das Buch ziemlich langsam gelesen, da eben diese Themen ziemlich wuchtig sind und es viel zu verdauen gibt. Doch es lohnt sich: Diese Geschichte wird mich lange nicht mehr loslassen und das soll sie auch gar nicht.
Auf Englisch lesen? Ja, wenn deine Englischkenntnisse sehr gut sind, da die Sprache an sich und besonders Vokabular aus der Rechtssprache recht anspruchsvoll sind. Mit Schulenglisch von vor einigen Jahren könnte es recht mühsam werden, aber glücklicherweise wird die Übersetzung im Januar 2015 unter dem Namen "Kindeswohl" im Diogenes Verlag erscheinen.