Die alltägliche Physik des Unglücks
720 Seiten

Luftig leichter melancholischer Teenagerroman - das passt nicht zusammen? Doch, für diesen Roman schon :-)
Blue, Halbwaise und hochbegabter Teenager, zieht mit ihrem Vater jedes Semester in eine andere Stadt. Für die typischen Vergnügungen Jugendlicher bleibt da nicht viel Zeit: stundenlanges Telefonieren mit der besten Freundin, gemeinsam für den schönsten Jungen der Schule schwärmen, mit der Clique auf Parties gehen, ins Kino, heimlich rauchen und Alkohol trinken... Sie wächst ohne Freunde auf, denn die Zeit ist zu kurz um wirklich Anschluss zu finden. So bleiben Blue ihr allseits umschwärmter Vater und ihre Bücher, die ihr in gewisser Weise das echte Leben ersetzen.
In ihrem letzten Highschool-Jahr entscheidet ihr Vater, Blues restliche Semester an einem Ort zu verbringen. Und das Erstaunliche geschieht: Sie wird in eine Clique aufgenommen (wenn auch unter merkwürdigen Umständen), die von allen Mitschülerinnen und Mitschülern bewundert mit. Mittelpunkt dieser Gruppe ist Hannah Schneider, eine Lehrerin der High-School, die alle Cliquenmitglieder abgöttisch verehren. Immer wieder fällt sie jedoch durch absonderliches Verhalten auf, was der Verehrung dennoch keinen Abbruch tut, ganz im Gegenteil. Als Hannah tot aufgefunden wird, beginnt Blue als Einzige mit Nachforschungen und stösst auf Ungeheuerliches.
Das Hervorstechendste an diesem Buch sind die ständig wiederkehrenden Erwähnungen von anderen Büchern: Mal ist eines zu einem Zitat erwähnt, mal zu einer Situation in Blues Leben, die so oder so ähnlich dort geschildert wurde. Mal erklären diese Bücher woher Blue den Ansatz für ihre Überlegungen nimmt, mal dienen sie nur zur Beschreibung einer genauen Situation. Blue scheint sie alle gelesen zu haben und nun helfen sie ihr, all das Neue und Chaotische das in ihr Leben einbricht, einzuordnen und zu strukturieren. Zu Beginn wirkt es eher störend, ständig einen neuen Buchtitel vorgeführt zu bekommen, doch immer öfter ertappt man (also ich :-)) sich dabei, über das jeweilige Buch nachzudenken. Und wenn man es zufällig noch kennt, macht es richtig Spass.
Beinahe 3/4 des Buches machen die Beschreibung von Blues fast normalem Teenagerleben aus. Es geschieht nicht allzu viel, aber es liest sich (siehe oben) luftig leicht melancholisch. Sieht man von den ständigen Bezügen auf Bücher oder wichtige Geschehnisse ab, ist der Ton eines Teenagers gut getroffen. Trotz ihres immensen Wissens und ihrer Intelligenz ist Blue weder arrogant oder überheblich, sondern oft voller Unsicherheit und Zweifel. Die anderen Personen werden (vielleicht gerade durch die Vergleiche mit Büchern oder deren Figuren sofern sie bekannt sind) mit Liebe zum Detail den Lesenden vor Augen geführt.
Ein schöner Schmöker für ein gaaanz langes Wochenende!

Die alltägliche Physik des Unglücks
720 Seiten

Ich tat mich schwer mit diesem Roman. Es hat wirklich viel Ausdauer gekostet, auch beim zweiten Anlauf mehr als ein Drittel zu lesen, denn der Anfang hat seine Längen und die Beschreibungen, die Blue als Erzählerin von sich gibt, wirken teilweise überambitioniert, man merkt diesen Stellen fast an, dass Marisha Pessl mit ihrem Debüt überzeugen wollte. Ähnlich erging es mir mit dem hier auftretenden Phänomen der Intertextualität: Ja, die Verweise zu anderen real-existierenden literarischen Werken war interessant, manche empfand ich allerdings auch als weniger zielführend und sie wirkten - bei den fiktiven Quellen fast deutlicher - wie bloßes Material, um nur noch mehr Seiten zu füllen. Hat man allerdings irgendwann die Hälfte des Buches hinter sich, wird man für das Durchhaltevermögen belohnt: Die Geschichte nimmt Fahrt auf, es entwickelt sich eine schöne Dynamik, die an Krimis und Thriller erinnert, und Pessl hört auf, sich in ihren Schilderungen in Details zu verlieren. Das letzte Drittel überrascht im positiven Sinne und ich bin tatsächlich begeistert, wie der ein oder andere Handlungsstrang, der ins Leere zu verlaufen schien, am Ende doch noch eine Bedeutung gewonnen hat, wenngleich ich auch noch nicht ganz zufrieden mit der Auflösung bin, weil gerade spannende Punkte offen bleiben.