Verräter wie wir
416 Seiten

John le Carré, ein Name der für spannende Agenten- und Spionagethriller steht - mit dieser Erwartungshaltung machte ich mich an sein neuestes Werk. Ich las und las, amüsierte mich prächtig und ertappte mich dennoch dabei, immer oberflächlicher über den Text hinwegzugehen, bis ich bei Seite 202 (ca. der Hälfte) das Buch resigniert zuschlug. Denn von Spannung - keine Spur. Welch eine Enttäuschung!
Doch ich hatte mich selbst in die Irre geführt, denn bei genauem Hinschauen ist (außer bei der Einordung bei diversen Buchläden) nirgendwo die Rede von Krimi oder Thriller. 'Verräter wie wir' ist eine Lektüre, die zwar im Agentenmilieu spielt und gegen Ende einen eindrucksvollen Spannungsbogen aufweist, aber dennoch nicht mehr oder weniger als ein Roman. Also schickte ich meine Erwartungen in die Wüste und begann nochmal von vorn. Und siehe da....
Perry und Gail, ein wohl recht typisch britisches, linksliberales Pärchen mit einer eher skeptischen Haltung gegenüber den staatlichen Institutionen, lernen in einem Urlaub einen russischen Oligarchen kennen, der sie unversehens zu seinen Vertrauten kürt. Plötzlich finden die Beiden sich wieder in der Rolle als Mittler zwischen dem britischen Geheimdienst und einem potentiellen russischen Überläufer.
LeCarré verwendet viele Seiten auf die genaue Darstellung der einzelnen Personen, inbesondere auf die seiner beiden Protagonisten Gail und Perry. Es gelingt ihm bravourös, nicht nur sehr detailliert sondern auch voller Witz die Eigenheiten und Widersprüchlichkeiten der Handelnden darzustellen. Wie Perry beispielsweise, der ewige Kritiker und Verächter der britischen Politik, der sich plötzlich als inoffizieller Geheimdienstmitarbeiter wiederfindet - und es wider Erwarten geniesst. Oder Dima, der russische Oligarch, der England liebt und bewundert und alle britischen Literaturklassiker besitzt, ohne vermutlich einen einzigen davon gelesen zu haben. Dies alles ist zudem in einer wunderbaren Sprache verfasst, über die man sich auf jeder Seite auf's Neue freut.
Weshalb dann trotzdem nicht die volle Punktzahl? Weil bis zur ca. der Hälfte des Buches die Menge der Perspektivenwechsel etwas überhand nimmt. In einem Gespräch mit dem Geheimdienst, das bis dorthin die Rahmenhandlung darstellt, berichten Gail und Perry über ihre Begegnung mit Dima. Hierbei werden Rück- und Einblicke auf und in die Lebensläufe der Beteiligten eingeschoben, wobei der Großteil dieser einzelnen Abschnitte meist nicht mehr als 4-6 Seiten umfasst, sodass zumindest der Beginn etwas unübersichtlich wirkt .
Aber abgesehen von dieser kleinen Mäkelei: grandiose Unterhaltung mit (wahrscheinlich) durchaus realistischen Einblicken in das schmutzige Geldwäschergeschäft.

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