Dämmerschlaf
320 Seiten

Wer sich bei diesem Buch einen spannenden Roman um eine wohlhabende Familie mit Intrigen und/oder womöglich sogar Verbrechen verspricht, wird aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich enttäuscht werden. Edith Wharton beschreibt einen relativ kurzen Zeitraum (1/2 Jahr?) im Leben einer der vermögensten Familien New Yorks, wobei die Handlung jedoch eher beiläufig bleibt. Etwaige Aufreger wie Betrug, obskure Sexveranstaltungen (?) und Affären bleiben eher Nebenschauplätze als dass sie tatsächlich in den Mittelpunkt des Geschehens rücken. Stattdessen sind es die mehr oder weniger alltäglichen Tages-, Handlungs- und Gedankenabläufe, die mit spitzer Feder ziemlich detailliert beschrieben werden sowie die Art und Weise, wie sich die Familie mit den verschiedenen Affären arrangiert: ignorieren oder mit Geld verhindern. Zwar ist klar, dass dies alles doch recht grell gezeichnet wird (Pauline ist beispielsweise gleichzeitig intensiv engagiert in den Kommitees für Geburtenkontrolle wie für uneingeschränkte Mutterschaft, ohne hierin einen Widerspruch zu sehen), doch irgendwie scheint die Realität nicht allzu weit entfernt... Nichtsdestotrotz kurz zum Inhalt: Pauline Manford, das (weibliche) Oberhaupt einer reichen Familie New Yorks der Zwanziger, hat einen Terminplan wie eine Vorstandsvorsitzende eines weltumspannenden Unternehmens. Doch statt Vorstandssitzungen, Geschäftsessen und/oder Aktionärstreffen wechseln sich bei Pauline sportliche Ertüchtigungen, Schönheitspflege sowie kulturelle und gesellschaftliche Verabredungen zur Errettung der Welt ab - meist im 15-Minuten-Takt. Dennoch ist sie für ihre beiden Kinder Jim und Nona die geliebte und auch bewunderte Mutter, auch wenn diese überhaupt nicht nach ihr kommen. Jim aus erster Ehe genoß das Leben wie es kam bis er Lita heiratete, eine exzentrische Künstlerin (?), der er völlig verfiel, sodass er sogar einen Bürojob annahm, um dem Bild eines anständigen Ehemannes zu genügen (was jedoch eher im Sinne Paulines als Litas war). Nona indes ist mit ihren 19 Jahren auf der Suche nach dem Sinn: Wozu das ständige Herumjagen von einem Termin zum nächsten? Treffen mit Menschen die man nicht mag, nur weil sie einem einen Kardinal als Gast bescheren können? Macht all das glücklich? Offenbar nur ihre Mutter. Jims Ehefrau ist schon nach kurzer Zeit von allem und allen zu Tode gelangweilt und will die Scheidung; Paulines Ehemann steckt in einem Gefühlschaos, an dem Lita nicht ganz unschuldig ist; Paulines momentaner Guru droht offenbar ein Prozess, in dem ihr Ehemann ermittelt undundund. Die Gesellschaft die Edith Wharton 1927 so detailliert beschrieben hat, stammt aus den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Doch es sind exakt die gleichen Phänomene, incl. des Verhaltens der Presse, die sich eins zu eins in unseren heutigen Zeiten wiederfinden. Krankheit und Tod werden verdrängt, was zählt ist das eigene Wohlbefinden und gute Aussehen: Wer krank ist oder sogar stirbt, ist selber schuld ;-) Esoterik, Okkultismus und oberflächliche Themen die die Schlagzeilen beherrschen; volle Terminkalender um der eigenen Sinnlosigkeit nicht zu begegnen - das bestimmte damals wie auch heute weite Teile der 'besseren' Gesellschaftsschichten. Obwohl Wharton dieses Buch bereits vor fast 90 Jahren schrieb, wirkt die Sprache noch immer frisch. Spöttisch und etwas affektiert - so, wie es diesem ganzen Roman entspricht. Mich hat dieses Buch fast durchweg amüsiert, wobei es durchaus seine Längen hat. Zum 10. Mal über die Lichtgestalt Lita zu lesen, die einer Vase, Lampe, Glas oder was auch immer ähnelt und von innen leuchtet, ist dann doch genug. Dennoch: Es hat sich gelohnt.